Lanze und Rose
Zeigefinger zu wickeln.
»Da ist etwas, von dem ich dir erzählen möchte«, begann er.
»Und was?«
»Ich habe etwas gesehen … Also, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es war alles so verschwommen und verworren … Aber ich glaube, ich habe Anna und Coll gesehen.«
Die Härchen an meinem Körper stellten sich auf, und ein eisiger Schauer lief mir das Rückgrat hinunter.
»Wann?«
»Als ich gefiebert habe, am letzten Abend.«
Erschrocken fuhr ich zusammen. Er spürte es, zog mich an sich und drückte mich fest an seine Brust.
»Besitzt sie wirklich eine Gabe?«
»Hmmm?«, gab ich zerstreut zurück.
»Beatrix, meine ich.«
Ich hatte an das Bild denken müssen, das ich mir im Lauf der Jahre von Anna gemacht hatte; ein strahlendes, von langem blonden Haar umgebenes Gesicht. War es möglich, dass er Beatrix mit ihr verwechselt hatte?
»Was hat sie getan?«
»Genau erinnere ich mich nicht. Ich glaube, sie hat die Hände auf meine Brust gelegt und Worte gesprochen … Doch das ist alles ganz verworren, Caitlin. Außerdem konnte ich sie nicht richtig sehen; sie hat mir den Rücken zugekehrt. Ich konnte nur mein Gesicht über ihrer Schulter erkennen…«
»Du hast in dein eigenes Gesicht über ihre Schulter hinweg gesehen? Wovon redest du, Liam?«
Bei seinen Worten überlief mich Gänsehaut, und ich erstarrte.
»Ich habe mich von weitem gesehen, von oben, als ob ich über meinem Körper schwebte…«
Ich spürte, wie er zitterte. War er auf die andere Seite gegangen? Hatte er den Schleier durchschritten, der diese Welt vom Reich der Toten trennt? Hatte er die andere Welt besucht?
»Dann habe ich ein sehr helles Licht gesehen, das mich unwiderstehlich anzog. Und Hände… ja, Hände, die an mir zerrten, um mich von dem Licht wegzuziehen. Ich wollte das nicht; ich fühlte mich so wohl. Und da habe ich ihre Gesichter gesehen, Caitlin. Sie befanden sich in diesem Licht und schauten mich an. Coll … Er hat mir zugelächelt.«
Ich sah zu ihm auf; er hatte die Augen geschlossen, und an seinen Wimpern hing eine Träne. Er schwieg lange, ehe er seine unglaubliche und verstörende Erzählung fortsetzte.
»Ihre Züge waren ein wenig undeutlich. Doch ich wusste, dass sie es waren. Caitlin… Ich hatte vergessen, wie sie aussahen…«, seufzte er, »ich hatte beinahe ihre Gesichter vergessen. Wie konnte ich nur? Coll, mit seinem kleinen, verschmitzten Lächeln … Genau wie Ranald. Meine beiden Söhne…«
»Oh, Liam…«
Mein Herz krampfte sich zusammen.
»Ich glaube… Sie haben versucht, mir etwas zu sagen. Da habe ich verstanden, dass meine Stunde noch nicht gekommen war.«
Er sah, dass ich vor Bestürzung ganz erstarrt war, lächelte mir leise zu und wischte sich die feuchte Wange. Dann zog er mich fester an sich und drückte mir einen Kuss auf die Haare.
»Weißt du, der Tod macht mir jetzt keine Angst mehr«, erklärte er nach kurzem Schweigen ernst. »Man leidet nicht mehr, weder körperlich noch seelisch. Es ist so, als ob … als ob man nur noch ein freier Geist wäre. Das ist wunderbar, Caitlin. Jetzt weiß ich, dass es allen, die gegangen sind, gutgeht und dass sie glücklich sind. Ranald, Colin, Simon…«
Ich erschauerte.
»Warum bist du dann nicht dort geblieben?«, fragte ich ein wenig schroff.
»He, a ghràidh !«, rief er aus und drehte mein Kinn, so dass ich ihn ansehen musste.
Wieder schwieg er ein Weilchen. Im schwachen Schein des Feuers, dessen Knistern den Raum erfüllte, schimmerten seine Augen. Darin stand eine solch tiefe Ruhe, dass es mich schon besorgte. Etwas in ihm hatte sich verändert. Er hatte tatsächlich den Schleier durchquert, hinter dem die dunkle Welt liegt.
»Also, wenn du dich so wohl gefühlt hast… Warum bist du dann hiergeblieben?«
Er küsste mich.
»So eilig habe ich es nicht. Ich habe alle Zeit der Welt. Und um die Wahrheit zu sagen…«
Im Halbdunkel leuchteten seine Zähne. Ich fand, dass sie ein wenig raubtierhaft wirkten. Der Jäger war noch hungrig …
»Hier unten ist es auch nicht übel.«
Seine Hand strich über meinen Arm und glitt dann zu meiner Hüfte weiter. Ich streichelte seine silbergrauen Schläfen und ließ meine Hände dann in seinen lockigen Schopf weiterwandern. Liam war mir genommen und dann zurückgegeben worden. Das ist Glaube, Caitlin . Ich hatte so sehr darauf gehofft, und Gott hatte mich erhört. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Liam auf der Erde noch etwas zu erledigen hatte. Warum? Das wusste Er allein. Ein
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