Lanze und Rose
nach. Der Abstand zwischen den beiden wurde rasch geringer. Das Raubtier schloss zu seiner Beute auf.
Dann setzte ein Schwerthieb der Flucht des Soldaten ein Ende. Der Schmerzensschrei, den der arme Mann im Sturz ausstieß, ließ mich zusammenfahren.
»Nein, Liam … Hör auf!«
Mit einem Aufschrei wollte ich losstürzen, doch eine eiserne Faust hielt mich fest, und ich fuhr herum.
»Lass, Mutter … Es ist zu spät.«
»Oh mein Gott! Was macht er denn bloß? Und warum? Halt ihn auf, Duncan!«
»Nein, Mutter. Der Mann ist schon tot. Lassen wir ihn gewähren. Er … er braucht das jetzt, glaube ich.«
Mit einer haltlosen Wut, wie ich sie noch nie bei ihm erlebt hatte, hieb Liam weiter auf den Toten ein. Ich wandte mich von der entsetzlichen Szene ab und vergrub mein Gesicht an Duncans Schulter. Eine Woge der Übelkeit drehte mir den leeren Magen um, und ich schmeckte bittere Galle im Mund und auf der Zunge. Plötzlich trat Grabesstille ein. Ich spürte, wie Duncan mich sanft aus seiner Umklammerung entließ.
»Es ist vorbei«, stammelte er nach einer Weile.
Langsam drehte ich mich um. Liam stand immer noch über der Leiche des Deserteurs. Schwer atmend und aus wirren Augen betrachtete er sein Werk. Ich tat einige Schritte auf ihn zu. Die Bewegung riss ihn aus seiner Erstarrung. Er wandte mir sein blutbespritztes, von Wut und Hass verzerrtes Gesicht zu. In seinen Augen las ich nichts als Kummer. Mit einem letzten Aufschrei wirbelte er herum, hob sein Schwert hoch in die Luft und schlug es auf einen Felsvorsprung. Mit einem Knirschen, das durch Mark und Bein ging, brach die Klinge.
Als dies getan war, bedeckte er den Körper mit sauberem Schnee. Dann sank er neben dem Toten nieder und murmelte ein Gebet. Einige Minuten vergingen, während der Rest von uns stumm dastand. Anschließend rieb er sich mit Schnee das Blut von Händen und Gesicht.
»Möge Gott seiner Seele gnädig sein«, sagte Duncan leise und ging zu seinem Pferd.
Liam erhob sich und kehrte zu uns zurück. Als er an mir vorbeischritt, wich er meinem Blick aus. Ich legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn zurück.
»Das hatte dieser Mann nicht verdient!«, hielt ich ihm vor.
Er sah mir unverwandt in die Augen und hielt meinem Blick eiskalt stand. Seine Züge blieben ausdruckslos, und er zuckte
mit keiner Faser seines Körpers. Ich erschauerte, als ich mir vorstellte, dass er den Feind gewiss mit demselben unerbittlichen Blick gemessen hatte, bevor er ihn niedermachte, und zitterte bei dem Gedanken, was sein Opfer dabei empfunden haben mochte. Tief sog er die Luft ein, und ein Schauer überlief ihn.
»Ich weiß«, sagte er einfach. »Aber auch Ran und Colin hatten nicht verdient, was ihnen zugestoßen ist.«
Seine Stimme klang hart. Er sah auf seine Hände hinunter, auf denen immer noch Blutspuren klebten. War es das Blut eines Unschuldigen? Er ballte die Fäuste. Dann entspannte sich seine Miene langsam. Ich gab seinen Arm frei, und er ging ruhigen Schrittes zu seinem Reittier. Ich holte tief Luft und schickte mich an, ihm zu folgen.
28
Inverness
Es regnete. Zu Beginn nur ein Nieseln, das sich jedoch, je weiter wir uns der Stadt näherten, zuerst zu einem leichten Regen und dann zu einem ausgewachsenen Guss wandelte. Als wir bei Einbruch der Nacht Inverness erreichten, schüttete es wie aus Kübeln.
Wir wussten, dass die Regierungstruppen die Stadt kontrollierten, und wollten daher so unauffällig wie möglich bleiben. Glücklicherweise wagten sich bei diesem Regen, der wie ein Wasserfall auf uns herabrauschte und die Straßen in Schlammwüsten verwandelte, nicht einmal die Hunde vor die Tür. Meiner Ansicht nach war die erste Stelle, an der wir nach Frances suchen mussten, das Tolbooth; daher drängte ich Liam, uns hinzuführen. Doch war er der Meinung, wir sollten uns zuerst ein Zimmer nehmen und etwas essen. So könnten wir besser überlegen, was wir danach unternehmen wollten. Zufällig befanden sich die drei Orte, die wir aufsuchen mussten, nur jeweils zehn Schritte voneinander entfernt in der Kirk Street.
Allerdings hätten wir uns denken können, dass wir mit den Farben unserer Tartans die missbilligenden Blicke der Stadtbewohner auf uns ziehen würden.
»Wir werden Schwierigkeiten bekommen«, meinte Calum und schob seinen leeren Teller beiseite. »Die Soldaten sind überall, und ich glaube nicht, dass sie uns hier gern sehen werden.«
Wie um seine Worte zu bestätigen warf Mr. Ross, der Besitzer der Taverne, in der wir
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