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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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Wollstoff verschwinden.

    »Seid Ihr dort gewesen? Bei der Hinrichtung, meine ich.«
    Langsam nickte sie.
    »Seit einiger Zeit hängen sie jede Woche ein paar Männer auf. Deserteure, Highlander … Sie sind verrückt geworden!«
    »Wie hat sie das durchgestanden?«
    »Sie hat nicht geweint, keine einzige Träne«, berichtete die Alte und runzelte die buschigen Brauen, unter denen sie betrübt dreinblickte. »Als wir dann hier waren, da hat sie drei Tage lang geweint. Danach hat sie drei Tage geschlafen. Sie wollte weder etwas essen, noch hat sie gesprochen. Gestern hat sie ein wenig Brühe zu sich genommen, und heute Morgen auch. Sie ist jung und hübsch; bestimmt findet sie bald einen neuen Mann.«
    Ich verzog skeptisch den Mund, biss mir aber auf die Zunge, um nichts zu sagen. Stattdessen dankte ich ihr noch einmal. Ich wollte dieses stinkende Durcheinander schon verlassen, als mir noch eine Frage in den Sinn kam.
    »Warum habt Ihr Euch ihrer angenommen?«
    Sie wirkte nachdenklich.
    »Ein Versprechen, das ich Gott gegeben habe, nachdem eine andere Frau mich ebenso aufgenommen hat, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Versteht Ihr, ich hatte einem Gentleman, der meine Dienste in Anspruch genommen hatte, ohne nachher dafür zu zahlen, seine dicke Börse gestohlen. Doch im Unterschied zu Eurer Tochter ist mich niemand abholen gekommen. Meine Familie hat mich verstoßen, und aus meinem Clan bin ich verbannt. Das ist alles schon sehr lange her … Ich muss ungefähr so alt gewesen sein wie Eure Tochter. Sie hat trotz allem Glück, wisst Ihr.«
    Ich sah sie einen Moment lang aufmerksam an und bemerkte den feinen Knochenbau unter der welken, von einem harten Leben verbrauchten Haut. Sie war sicher einmal hübsch gewesen. Aber das Leben hatte ihr nichts geschenkt. Lächelnd nahm ich ihre Hand und drückte sie herzlich.
    »Ja, wahrscheinlich habt Ihr recht… Janet. Danke.«

29
Chronik einer Hinrichtung
    Was war der Sinn unseres Aufenthalts auf dieser elenden Welt? Waren wir etwa nur Figuren auf einem riesigen Schachbrett? Könige, Damen, Läufer, Springer und einfache Bauern in einer ewig währenden Partie zwischen Gut und Böse. Wenn ein Bauer fiel, wurde er eben durch einen anderen ersetzt. Befand der König sich in einer schlechten Position, opferte sich ein Springer. Doch welche Hände bewegten die Figuren und entschieden über ihr Schicksal? Was war das Ziel dieses Spiels und was der Einsatz?
    Ich schloss meine vor Müdigkeit brennenden Augen und versuchte mir vorzustellen, wie Gott sich über das Spielbrett beugte, nachdachte und sich dabei mit knotigen Fingern den langen weißen Bart strich. Dann wischte er sich die schweißfeuchten Handflächen an seiner makellosen Robe ab und tat mit zitternder Hand seinen nächsten Zug. Den Teufel, der Ihm gegenüber saß, sah ich so, wie man ihn mir in den Geschichten aus meiner Kindheit beschrieben hatte: Grotesk, mit gespaltenen Hufen statt Füßen, die behaarten Beine übereinandergeschlagen, beobachtete er Ihn aus schwarzen, blitzenden Augen, den Mund zu einem heimtückischen Grinsen verzogen.
    Gott ergreift eine Figur und zögert einen Moment lang. Der Teufel bricht in ein mephistophelisches Lachen aus, das die Figuren und das Schachbrett zum Beben bringt. Gott sieht bedrückt zu seinem Gegner auf und beißt sich auf die Lippen. Hat Er vielleicht einen Fehler gemacht? Wird Er eine weitere Seele verlieren, indem Er sie dem Bösen aussetzt? Er scheint in letzter Zeit einige verloren zu haben, zum Vorteil Seines Feindes, der Ihm jetzt ein boshaftes Grinsen zuwirft. Gott versucht, sich zu konzentrieren. Und wenn das nur eine List des Teufels
ist, um Ihn von diesem Zug abzuhalten? Woher soll Er das wissen? Er muss spielen; die Zeit wird knapp.
    Gott schiebt die Figur ein Feld weiter. Der Teufel bläht seinen gewaltigen Brustkorb auf und zieht die böse dreinblickenden kleinen Augen zusammen. Er öffnet den Mund, enthüllt eine Reihe spitzer Fangzähne und stößt seinen ekelhaft stinkenden Atem aus.
    »Ihr opfert da eine ziemlich wertvolle Figur, mein Freund«, meint er plötzlich mit einer Stimme, die klingt, als komme sie aus einem Grab.
    Gott sieht auf das Spiel hinunter. Sein König wird von der Dame und einem Springer gedeckt. Er riskiert einen Turm und zwei Bauern, je nachdem, wie sich der Meister des Bösen entscheidet. Welchen Fehler hat Er begangen? Er hatte keine andere Wahl; eine Figur musste Er opfern. Ein Bauer … Pah! Das ist das kleinere Übel; Er ist

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