Lanze und Rose
auf seine Schultern wallte. Er sah mich an und zwinkerte im hellen Licht mit den Augen.
»Ähem … Ich suche Reverend Chisholm«, erklärte ich dem Riesen zögernd.
Als ich sein dunkles, schlichtes Gewand und den weißen, gestärkten Kragen des Mannes erkannte, lächelte ich ein wenig töricht. Ich hatte damit gerechnet, einen reservierten, kühlen Geistlichen anzutreffen, klein und dickbäuchig. Aber dieser hier würde seinen Zweck ebenfalls erfüllen.
»Ich bin Pastor Chisholm. Was kann ich für Euch tun, gute Dame?«
»Ich bin auf der Suche nach meiner Tochter Frances«, erklärte ich. »Sie soll vor zwei Wochen aus dem ›Loch‹ freigelassen worden sein, und ich hatte überlegt, ob Ihr … Jemand hat mir gesagt, Ihr kümmertet Euch um…«
»Hmmm… Witwen und Waisen?«
Er legte die großen, behaarten Pranken auf dem Bauch zusammen und runzelte die Stirn.
»Frances Macdonald«, fuhr ich angesichts seiner nachdenklichen Miene fort. »Sie ist ein wenig größer als ich und hat rotbraunes Haar und blaue Augen.«
»Macdonald? Ja, ich glaube, dieser Name sagt mir etwas.«
Sein Blick richtete sich an mir vorbei ins Leere. Dann hellte seine Miene sich plötzlich auf, um sich sogleich wieder zu verdüstern. Aus seinen grauen Augen sah er mich betrübt an, und mir wurde das Herz schwer.
»Ja, ja, ja… Das arme Kind, sie war in einem furchtbaren Zustand.«
»Wo ist sie jetzt? Wisst Ihr, wohin sie sich gewandt haben kann?«
»Ich habe sie der alten Janet Simpson anbefohlen. Aber ich kann Euch nicht sagen, ob sie sich noch dort aufhält.«
»Und wo lebt diese Janet Simpson?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Der Gottesmann mit der imposanten Statur wies mit dem Zeigefinger in Richtung Südwest.
»Etwa zwei Meilen von hier entfernt, in den Hügeln auf der anderen Seite des Ness. Dort findet Ihr am Straßenrand eine Gruppe von kleinen Hütten. Fragt die Leute; sie werden Euch zeigen, in welcher davon sie wohnt.«
»Ich … ich danke Euch«, stammelte ich gerührt.
Er neigte das Haupt, ohne sein mitfühlendes Lächeln abzulegen.
»Mein Kind, ich handle nur nach den Geboten der Heiligen Schrift: Mildtätigkeit, Nächstenliebe und Vergebung. Die armen Schäflein bedürfen oft eines Hirten.«
Die Hütten kamen mir eher vor wie eine Ansammlung von Elendsbehausungen. Die fensterlosen Unterstände mit ihren Wänden aus Stein und Torf gruben sich zur Hälfte in die Flanke des Dunain Hill. Man hätte meinen mögen, dass dort im Nebel, zwischen den Felsvorsprüngen, Pilze aus dem Boden sprossen. Unter den mageren, vom Torffeuer geschwärzten Gesichtern, die uns begegneten, suchten wir nach Frances, doch vergeblich. Ich begegnete nur den neugierigen Blicken von rotznasigen Kindern und den stumpfen Mienen der Erwachsenen. Inverness war von mehreren derartigen Siedlungen umgeben, die von solchem menschlichen Strandgut bewohnt wurden; Menschen, die ihre angestammten Täler verlassen hatten, weil sie glaubten, in der Stadt ein besseres Leben zu finden.
Eine alterslose Frau, die in ein altes Plaid von verblassten Farben gehüllt war, sah mich aus kleinen, flinken Augen an. Doch als ich mich ihr näherte, nahm sie Reißaus und flüchtete in den Eingang ihrer Behausung. Ein quiekendes Schwein kam herausgeschossen, dem ein kleines Mädchen mit nackten, schlammverschmierten Füßen nachrannte.
»Janet Simpson?«, fragte ich einfach und blieb auf Abstand.
Die Frau nickte und sagte etwas zu dem kleinen Mädchen, das uns argwöhnisch musterte. Duncan kramte in einer seiner Satteltaschen
und zog einen Brotkanten hervor, den er vor sich hinhielt.
»Wo wohnt bitte Janet Simpson?«, fragte er jetzt ebenfalls.
Die Frau beäugte die Gabe begierig.
»Mairead, faigh an t-aran !, kreischte sie. Margaret, hol dir das Brot!
Das ließ das Mädelchen sich nicht zweimal sagen. Doch Duncan hob den Kanten hoch, so dass die hungrigen kleinen Händchen ins Leere griffen.
»Càit’a bheil an thaigh aice ?«, beharrte er. Wo ist ihr Haus?
Die Frau warf uns einen finsteren Blick zu und wies dann mit dem Finger den Hügel hinauf, wo ein wenig abseits von den anderen eine weitere Hütte stand.
»Thall an-sin .« Dort.
»Tapadh leat , danke sehr«, sagte Duncan mit seinem schönsten Lächeln.
Das Mädchen riss ihm den Kanten aus der Hand und rannte mit seiner kostbaren Beute nach drinnen, dicht gefolgt von der Frau.
Vor der verkommenen Behausung saß eine alte Frau, die auf ihrer Bank zu schlummern schien. Keine Spur von Frances. Liam warf
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