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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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clach-na-cuddain feilgeboten wurde, einem Platz, der eine halb im aufgeweichten Boden versunkene Raute bildete. Das emsige Treiben spielte sich unter den Augen der Wäscherinnen ab, die dort rasteten und den neuesten Gerüchten, die in der Stadt umgingen, lauschten. Zu ihren Füßen standen schwere Körbe mit Wäsche und Gemüse, die sie beide ein wenig weiter unten am Lauf des Ness in dem schlammigen Flusswasser gewaschen hatten. Heulende Kinder hingen an ihren Röcken.
    Dies war die tägliche Betriebsamkeit der Stadt, welche die wichtigste Verbindung der östlichen Highlands zur Außenwelt darstellte. Hier veräußerten die Clanchiefs aus der Gegend ihre Rinder, ihre Wolle und ihren Whisky; und hier beschafften sie sich, was das Land nicht selbst erzeugte: Gewürze, Seide, Spitze, Waffen und Munition und französischen Wein, den sie ebenso schätzten wie Bücher vom europäischen Kontinent. Inverness war eine kleine Stadt, doch sie spielte eine wichtige Rolle in der Wirtschaft der Highlands.
    Die Straßen waren schmal und dunkel. Die Häuserreihen erhoben sich wie steinerne Mauern und beschatteten sie noch zusätzlich. Die oberen Stockwerke der Häuser ragten hoch über unseren Köpfen auf und schienen in der Luft zu schweben. Sie neigten sich sogar so stark aufeinander zu, dass man Acht geben musste, seinem Nachbarn nicht den Inhalt des Nachttopfes ins Gesicht zu schütten. Daher gingen wir neben unseren Pferden, um nicht solch eine unerwartete Bescherung über den Kopf zu bekommen. Mir fiel auf, dass die Bewohner keine Hemmungen hatten, ihre Lebensphilosophie und ihre moralischen Prinzipien kundzutun, indem sie Maximen, Bibelverse oder andere Texte auf die Fassaden aus rotem Backstein oder auf die gekalkten Mauern schrieben: »Allein der Glaube ist die Rettung!«, »Ein Mann ist das, was er weiß!« oder: »Wer Gewalt durch Gewalt vergilt, verletzt nur das Gesetz, aber nicht den Menschen!«, stand da zu lesen. In diesen Sinnsprüchen erkannte ich die Seele und den Charakter der Schotten wieder: pragmatisch und wenig fantasievoll, aber äußerst praktisch.

    Die Menschen, die ihren jeweiligen Beschäftigungen nachgingen, ignorierten uns vollständig und stießen uns im Vorbeigehen sogar an. Ein Aufschrei hallte die Straße entlang; dann kam Bewegung in die Menschenmenge am anderen Ende der Bridge Street.
    »Platz machen! Los, auseinander! Lasst den Sheriff durch!«, brüllte ein Mann von einem Karren, der von zwei Ochsen gezogen wurde, herunter.
    Liam stieß mich brüsk gegen die Mauer, so dass ich mich zwischen einer gefüllten Regentonne und meinem Pferd eingequetscht wiederfand. Der Karren zog mit nur wenigen Zoll Abstand vorüber, ohne sich um die Menschen auf der Straße zu kümmern.
    »Noch ein paar für den Strick!«, brüllte jemand und schwenkte die Faust.
    Ich folgte dem hasserfüllten Blick des rotgesichtigen Mannes, der da vom Leder zog, und sah in die ausdruckslosen Augen von drei Männern, die im hinteren Teil des Karrens angekettet waren. Jakobitische Highlander, um genau zu sein, welche die weiße Kokarde der Stuarts am Barett trugen. Neben ihnen standen zwei Soldaten, die sich kaum auf dem rumpelnden Gefährt halten konnten, und hielten sie mit dem Bajonett ihrer Musketen in Schach. Ein vierter Mann lag auf dem Boden des Karrens. Ein Schauer überlief mich. Er trug einen scharlachroten Rock und schien mich aus seinen toten Augen anzustarren. Sein Kiefer hing schlaff herunter, und er hüpfte mit den Stößen des Wagens, der durch die ausgefahrenen Spurrinnen holperte. Sein blutverklebtes, aschblondes Haar wehte im Wind. Ich wandte mich ab.
    »Komm weiter«, sagte Liam und zog mich hinter sich her. »Lass uns nicht hierbleiben.«
    Reverend Chisholm übte sein Amt in den Mauern der St. John’s Chapel in der Kirk Street aus und bewohnte eine Etage des Innes’s Land genannten Hauses, dessen vorspringende Erkertürmchen uns jetzt überragten. Da wir Montagmorgen hatten, würden wir ihn vielleicht zu Hause antreffen. Ich klopfte an seine Tür, die am oberen Ende einer gefährlich schmalen Wendeltreppe lag. Einige Minuten vergingen. Ich war ganz in die
Betrachtung der vorübergehenden Menschen in der Straße unter mir versunken, als sich die Tür, in die ein winziges, mit einem Gitter versehenes Fensterchen eingelassen war, öffnete. Ein Hüne mit freundlichem Gesicht, das fast vollständig von einem Bart bedeckt war, stand da. Sein kahler Schädel wurde von einem silbrigen Haarkranz gesäumt, der bis

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