Lanze und Rose
winziges Gesicht vor sich … Und dann stieg hinter ihm Annas Antlitz auf. Die beiden Menschen, die ihm entrissen worden waren. Das schien inzwischen so lange her zu sein, dass er aufgehört hatte, sich nach dem Warum zu fragen. Das Leben war so zerbrechlich …
Aber was machte überhaupt das Leben eines Menschen aus? Ein kurzer Zeitraum, unbedeutend angesichts der Ewigkeit, und doch so vielfältig und intensiv und oft so voll schrecklicher Prüfungen. Wie konnte ein Mensch sie ohne Liebe durchstehen? Und was würde von diesem Menschen bleiben, nachdem er seine Existenz auf Erden, wie unbedeutend diese auch gewesen sein mochte, durchschritten hatte? Seine Kinder. Sein Fleisch, sein Blut, kurz gesagt die Verlängerung seines Lebens. Der unwiderlegbare
Beweis dafür, dass er gelebt und eine Rolle in der Geschichte der Menschen gespielt hatte.
Duncan stand vor ihm, hoch aufgerichtet und kräftig auf den Beinen. Er war ein tapferer Krieger und ein sehr vernünftiger Mann. Sein gleichmütiges Wesen – Stimmungsumschwünge hielten bei ihm nie lange an – und seine unverbrüchliche Loyalität gegenüber den Seinigen hatten ihm aller Respekt eingetragen. Ja, er war stolz auf ihn. Und merkwürdigerweise verspürte er gerade heute den Drang, ihm das auch zu sagen.
Doch Liam war es nicht gewöhnt, seinen Gefühlen mit Worten Ausdruck zu verleihen. Gewiss, er hatte seine Söhne während ihrer gesamten Kindheit immer wieder für ihre Leistungen gelobt: für einen guten Fang beim Fischen, einen erfolgreichen Übungskampf mit dem Schwert oder eine reiche Beute bei einem Raubzug. Aber nie hatte er ihnen gestanden, mit welchen Gefühlen es ihn erfüllte, sie zu Männern heranwachsen zu sehen. Für Ranald war es zu spät. Bestimmt hatte sein verstorbener Sohn tief in seinem Inneren gespürt, dass er zufrieden mit ihm und stolz auf ihn war, genau wie er seinem eigenen Vater gegenüber empfunden hatte. Aber manchmal brauchte es auch Worte …
Duncans Mundwinkel zuckte leicht, und er spürte, wie seine Schulter sich unter seinen Fingern anspannte. Dann schlug sein Sohn gerührt die Augen nieder.
»Duncan«, murmelte Liam, »ich möchte, dass du weißt…«
»Ich habe es immer gewusst, Vater.«
»Aber ich wollte es dir sagen. Einem Mann, einem Vater fällt das nicht immer leicht, seinem Sohn zu sagen, dass er ihn im Herzen trägt. Du wirst das selbst noch erleben. Ich weiß nicht warum, aber seiner Frau, oder auch seiner Tochter zu sagen, dass man sie liebt, das geht an. Aber seinem Sohn? Vielleicht liegt es daran, dass es einem eigenartig vorkommt, ›ich liebe dich‹ zu einem anderen Mann zu sagen. Ich weiß, das klingt ein bisschen lächerlich, aber so ist es.«
Duncan sah aus feuchten Augen zu ihm auf, und öffnete die leicht zitternden Lippen. Doch die Worte blieben ihm in der zugeschnürten Kehle stecken.
»Ich liebe dich auch, Vater«, brachte Duncan schließlich heraus.
Liam wischte sich mit dem Plaid seines Sohnes diskret eine Träne ab und tätschelte ihm zärtlich die Schulter. Merkwürdigerweise fühlte er sich jetzt besser.
»Komm«, sagte er und zog sich ein wenig verlegen zurück, »machen wir uns auf die Suche nach deiner Mutter.«
Alle Männer waren auf ihrem Posten. Unterwegs stießen Liam und Duncan auf Angus und Donald, die lang ausgestreckt im hohen Gras lagen. Mars Leute begannen die Boote zu besteigen.
»Und?«, fragte Liam und warf sich ebenfalls auf den Boden.
»Nichts«, brummte Donald. »Vielleicht hat er ja aufgegeben. Er ist allein und muss doch den Verdacht hegen, dass wir gewarnt sind und ihn erwarten werden. Ihm ist sicher klar, dass er kaum eine Aussicht hat zu entkommen, selbst wenn es ihm gelingt, den Prätendenten zu töten.«
»Hmmm…«
Liam hatte diese Möglichkeit bereits bedacht und hatte ein schlechtes Gefühl dabei. Was würde Gordon mit Caitlin anstellen, wenn er beschloss, seinen Plan aufzugeben? Würde er sie freilassen oder … Er musste hoffen, dass der Bastard bis zum Äußersten gehen würde. Suchend glitt sein Blick über den Waldrand. Er war die Gegend während des Tages abgegangen, um festzustellen, welche Stellen sich für einen Hinterhalt am besten eigneten, und war die Küste bis zu ein paar Fischerhütten, die eine halbe Meile entfernt lagen, entlanggewandert.
Zwei Stellen hatten seine Aufmerksamkeit geweckt. Die erste war eine kleine, von Ranken und Unkraut überwachsene Anhöhe, auf der sich ein Felsvorsprung erhob. Wenn Gordon sich dahinterkauerte, befand er
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