Lanze und Rose
gefallen.«
Er schlug die Augen nieder und wirkte nachdenklich.
»Wie geht es eigentlich Becky?«, fragte ich.
»Sie ist vor drei Jahren gestorben.«
»Becky war bei deiner Geburt dabei.«
»Ich weiß. Sie hat es mir erzählt.«
»Hat sie dir dann auch von dem Vertrag erzählt, den ich unterzeichnen musste? Hat sie dir gesagt, wie Lord Dunning mich benutzt und gedemütigt hat?«
Er schwieg eine Weile und sah reglos in die Ferne. Dann nickte er.
»Dann kennst du also die Umstände, die mich bewogen haben, dich… fortzugeben?«
»Ja…«
Seine Antwort war mehr ein Hauch denn ein Wort. Er ließ den Kopf hängen.
»Stephen, ich habe es zu deinem Besten getan. Was hätte ich dir als einfaches Dienstmädchen denn für eine Zukunft bieten können? Lord Dunning hat mir angeboten, dich großzuziehen wie seinen eigenen … Nun ja, du warst ja auch sein Sohn. Wenn ich mich geweigert hätte, dann hätte ich mittellos auf der Straße gestanden. Ich hätte dich ohnehin auf irgendeine Weise zu Fremden geben müssen. Glaub mir, ich habe diese Entscheidung nicht frohen Herzens getroffen. Und ich konnte ja nicht ahnen, was später geschehen würde. Wenn ich gewusst hätte…«
Er hatte sich zu mir umgewandt; sein Blick brachte mich aus der Fassung. Angesichts seiner offensichtlichen Verachtung und seiner unausgesprochenen Vorwürfe schlug ich die Augen nieder. Wie konnte ein Kind, und wenn es auch inzwischen zum Manne herangewachsen war, die Wahl akzeptieren, die sich mir aufgedrängt hatte? Ich selbst hatte mir ja nie verziehen. Außerdem, wollte Stephen mich überhaupt verstehen? Mein ganzes Leben hatte ich gehofft, meinen Sohn einmal wiederzufinden. Insgeheim hatte ich auf diesen Moment gewartet. Aber heute war ich mir nicht mehr sicher.
»Ich verlange nicht, dass du mich verstehst, Stephen, und erst recht nicht, dass du mir verzeihst. Ich möchte nur, dass du die Wahrheit kennst. Turner hat mich verachtet, und er hat seinen
Hass auf mich an dich weitergegeben. Du hast nur einen Teil seiner Persönlichkeit ge…«
»George war der einzige Mensch, der mir ein wenig Liebe erwiesen hat«, unterbrach er mich, und seine Augen schimmerten feucht. »Er hat es vielleicht auf seine Weise getan. Gewiss, er ist nicht überschwänglich mit seiner Zuneigung umgegangen; aber er hat dafür gesorgt, dass es mir an nichts fehlte, und …«
»Und dass du einen Hass auf mich entwickelt hast! Hat er dich auch gelehrt, dein Vaterland zu verraten?«
Er fuhr auf dem Absatz herum und schlug mich mit einem finsteren Blick.
»Ich übe keinen Verrat an England! Im Gegenteil, was ich tue, das tue ich für mein Land!«
»Darauf kommt es nicht an, Stephen! Du hast die Menschen verraten, die dir vertraut haben. Patrick, den Earl of Marischal, all die anderen…«
»Wer seid Ihr, dass Ihr Euch ein Urteil über mich anmaßt?«
Bleich vor Zorn stand er vor mir und musterte mich kalt. Ich sah ihn an und keuchte vor Zorn und Trauer darüber, dass mein Sohn von hinterlistigen Geistern manipuliert worden war, dass man sich seiner straflos bedient hatte, um Rachegelüste zu befriedigen. Doch es war zu spät. Seine Seele war von Hass zerfressen. Ich ergab mich in mein Schicksal. Mein Sohn war das, was andere aus ihm gemacht hatten. Und ich war schuld daran …
»Es tut mir so leid…«
Ein sarkastisches Auflachen gellte mir in den Ohren. Meine Handfesseln hinderten mich daran, sie mir zuzuhalten, damit ich es nicht zu hören brauchte.
»Was tut Euch so schrecklich leid, Mutter ?«
Seine Stimme klang böse, und sein Lächeln war es ebenfalls.
»Meine Geburt? Der Mord an meinem Vater?«
»Das war Notwehr«, gab ich heftig zurück.
»Und George?«
Ich fuhr zusammen und verstummte erschrocken.
»Turner? Das war ich nicht«, widersprach ich schwach.
»Aber Ihr wart an jenem Abend dort. Das wusste ich schon,
bevor Ihr es mir gestanden habt. Die schöne Clementine kann nicht lügen, wenn ihr eine Klinge an der Kehle sitzt. Eure Intrigen, mit denen Ihr Patrick aus der Festung befreit habt … Offensichtlich wäre es besser gewesen, George hätte sich nicht gezeigt. Aber er hatte Euch bei diesem Dinner erkannt und Befürchtungen bezüglich Eurer Absichten gehegt, daher wollte er den Gouverneur warnen. Doch er ist zu spät gekommen … oder sollte ich vielleicht sagen zu früh. Ihr schicktet Euch gerade zum Gehen an. Wenn er ein paar Minuten später eingetroffen wäre, dann wäre er heute noch am Leben.«
»Du hast Clementine doch
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