Lanze und Rose
Sàra?«
»Sie braucht mich, Frances.«
Einen Moment lang sah sie mich reglos an. Dann legte sie das Kleidungsstück, an dem sie gearbeitet hatte, in den Korb, der zu ihren Füßen stand, und faltete die Hände auf den Knien.
»Wann brichst du auf?«, fragte sie mit vorgetäuschter Gelassenheit.
Ich wandte mich dem Fremden zu, der in einem der Lehnstühle am Feuer in aller Ruhe seine Pfeife rauchte. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, stand er auf, hüstelte und nahm die alte Pfeife aus vergilbtem Knochen aus dem Mund.
»Wir können aufbrechen, sobald Ihr gepackt habt, Madam.«
»Gut, dann also morgen früh, Mr. Marshall. Ihr braucht Ruhe, und ich muss meinen Leuten noch Anweisungen geben, bevor ich das Tal verlasse.«
»Wie Ihr wünscht, Madam«, gab er zurück, sichtlich froh darüber, sich einige Stunden Schlaf gönnen zu können.
Drei Tage später befand ich mich in Edinburgh und wartete in der kleinen, dunklen Eingangshalle von Patricks Haus. Im Laufe der Jahre war ich schon öfter hier gewesen; doch heute vermisste ich Sàras herzhaftes, heiseres Lachen, das mich für gewöhnlich empfing. Rasche Schritte klapperten über das Parkett, eine Tür öffnete sich, und dann zeigte sich ein kleines rosiges Köpfchen unter einer makellosen Haube. Das Gesicht leuchtete auf und verzog sich zu einem breiten, herzlichen Lachen.
»Ah! Mrs. Macdonald!«, rief die Köchin aus und riss die Arme in die Höhe.
Sie stürzte auf mich zu und wackelte dabei mit ihrem gewaltigen Hinterteil. Trotz meiner trüben Stimmung musste ich lächeln. Die liebe Rosie! Mit ihrem unablässigen Geplapper, ihrer kleinen Statur und ihren Rundungen erinnerte sie mich immer an eine Henne, die um ihre Küken herumgluckt; nur dass es sich in diesem Fall um Sàra und Patrick handelte.
»Endlich seid Ihr da! Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, dass Ihr kommen würdet! Der Herrin geht es gar nicht gut, also wirklich gar nicht gut, das kann ich Euch sagen!«
Sie nahm mir meinen schweren Wollumhang und die Handschuhe ab und zog mich dann zu der Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte.
»Gibt es Neuigkeiten?«
Rosie erstarrte mitten auf den Stufen und wandte sich um. Ich wäre fast gegen ihren gewaltigen Bauch geprallt, der drohte, die bis aufs Äußerste gespannte Schürze zu sprengen.
»Mr. Patrick geht es sehr schlecht. Gestern Morgen hat uns Doktor Arthur aufgesucht. Einer seiner Kollegen war vor zwei Tagen im Kerker des Schlosses …«
Sie verzog das Gesicht und schlug verzweifelt die Augen zum Himmel auf.
»Sein Bein ist so dick wie ein schönes rundes Haggis 17 , und er leidet unter hohem Fieber. Wenn er nicht bald dort herauskommt, hat er nicht mehr lange zu leben.«
»Wird er denn behandelt?«
»Wer weiß? Der Kollege von Doktor Arthur sollte nur feststellen, in welchem Zustand sich die Gefangenen befinden. Ob man sie versorgt… Angesichts des Aufstandes und des ganzen Ärgers weiß ich das nicht, Madam. Aber ich bezweifle, dass man den Aufständischen eine angemessene Versorgung zukommen lässt.«
Im Boudoir empfing mich ein köstlicher Duft nach frisch gebackenem Kuchen. Sàra hatte sich vor dem schmutzigen Fenster
auf einen Sessel geworfen. In dem im Halbdunkel liegenden Zimmer herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Überall auf dem Boden und den Möbeln türmten sich Kleidungsstücke. Der kleine Sekretär bog sich unter Papier- und Bücherstapeln. Ein Tintenfass aus Delfter Porzellan mit blauen Motiven war offen stehen geblieben; eine Feder steckte immer noch darin.
Langsam wandte Sàra mir ihr von Angst und Erschöpfung verwüstetes Gesicht zu. Als sie mich erblickte, schrie sie vor Verblüffung leise auf und brach dann in Tränen aus.
»Oh Caitlin! Ich habe mir so sehr gewünscht, dass du kommen würdest … Ich weiß nicht mehr aus noch ein«, schluchzte sie kurz darauf an meiner tränennassen Schulter.
Ich streichelte ihre langen, blonden Haare, die immer noch schön waren, obwohl sie mit den Jahren leicht nachgedunkelt waren, und küsste sie auf die Wangen.
»Warum hast du so lange gewartet, bis du mir geschrieben hast, Sàra?«
Sie schob sich eine Haarsträhne zurück und schniefte in ihren Ärmel. Ihre schönen grauen Augen hatten die Farbe eines Gewitterhimmels angenommen.
»Ich wollte dich nicht damit belasten. Zuerst habe ich geglaubt, unsere jakobitischen Freunde würden sich für Patrick und die drei Männer, die zusammen mit ihm in Gefangenschaft geraten sind, einsetzen. Aber sie
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