Lanze und Rose
herum, streiften mich mit ihren nachtschwarzen, schimmernden Federn und erinnerten mich daran, dass in diesem Land der Tod umging.
Ich holte tief Luft, um meine Lungen mit dem köstlichen Duft zu füllen, der aus der Küche aufstieg. Brigid, die Köchin, backte wohl ihr Brot. Heftig rieb ich mir das Gesicht, um die widerlichen Bilder zu vertreiben, die mir noch vor Augen standen.
Mit einem Beil hackte jemand Fleisch in Stücke, die er in ein großes Holzfass, das zu seinen Füßen auf dem Boden stand, warf. Das Fass war bereits voll mit diesen frischen, roten Fleischstücken. Ein Hund kam in die Küche gelaufen, dann ein zweiter und noch ein weiterer … Sie knurrten und stritten sich um die Stücke, in die sie gierig die Zähne schlugen. Ein metallisches Klimpern in dem Fass zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich trat die hungrigen Köter, die mich bedrohlich umkreisten, mit dem Fuß weg und trat näher. Dann nahm ich einen großen Holzlöffel und rührte in der blutigen Masse, um den glänzenden Gegenstand zu finden. Ich entdeckte ihn am Finger einer menschlichen Hand … der Hand eines Mannes mit langen, schmalen Fingern. Der Hand eines Künstlers.
Ich unterdrückte die Übelkeit, die in mir aufstieg, und schloss die Augen. Ich kannte diese Hand, diesen Siegelring. Sie gehörten Patrick. Ich sprang aus dem Bett und riss die Vorhänge auf,
um das helle Tageslicht einzulassen. Warum dieser Traum? Und die anderen? Waren das Visionen? Nein, dazu waren sie zu rätselhaft. Waren es Wahrträume, die eine Botschaft beinhalteten? Oder ganz einfach eine Entäußerung der Befürchtungen und Ängste, die ich ansonsten in die entferntesten Winkel meines Geistes schob, damit ich mir nicht ständig das ganze Entsetzen des bevorstehenden Krieges vorstellte? Ich versuchte verzweifelt zu vergessen, dass Blut fließen und diese stets durstige Erde tränken würde, doch es gelang mir nicht.
Oh, Liam! Ich brauche dich so sehr! Ich möchte mich in deine Arme werfen, um nichts mehr zu sehen, mich darin vergraben, um nichts mehr zu hören … Ich schob die Läden des kleinen Fensters auf. Eine Meeresbrise umfing mich und drang ins Zimmer. Ich hob mein Gesicht in den warmen Sonnenschein des Oktobermorgens und schloss die Augen, um mir Liams Gesicht vorzustellen. Eine Träne rollte mir über die Wange.
A Dhia … tha mo dhochas unnad air son gras is gloir … Mein Gott, ich hoffe, dass Du mir in Deiner unendlichen Güte …
Ich schlug die Augen auf und betrachtete den strahlend blauen Himmel, an dem ein paar kleine, flaumige Wölkchen trieben. Ein seltsames Gefühl bemächtigte sich meiner. In schwierigen Augenblicken wandte ich mich ganz natürlich dem Gebet zu. Ich flehte um die Erlösung von meinen Leiden. Und dennoch… Mit einem Mal kam es mir vor, als fände ich nie wirklich Linderung. Und an wen richtete ich überhaupt meine Bitten? An Gott, zu dem ich in diesen schweren Zeiten Tag für Tag betete? Merkwürdigerweise überfielen mich Zweifel. Hörte Gott mich überhaupt? Existierte Er wirklich?
Ein wenig unterhalb von mir, auf dem öffentlichen Platz, erklang ein ordinäres Lachen, riss mich aus meinen Überlegungen und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Einige Dorfbewohner hatten sich um das Wegkreuz versammelt und umstanden ein Kind, das sich zusammenkauerte und sich die Ohren zuhielt, um ihren Spott nicht zu hören. Ich zog die Augen zusammen und beschattete sie mit der Hand, um das Gesicht des Prügelknaben genauer erkennen zu können. Herrje, das war gar kein Kind, sondern ein Mann, ein Zwerg, der dazu noch bucklig war. Eine
Frau wies gehässig mit dem Finger auf den Invaliden, überschüttete ihn mit Schimpfworten und warf eine Rübe nach ihm. Der kleine Mann krümmte sich unter der Woge hämischen Gelächters. Kinder drängten sich zwischen den Beinen und Röcken der Erwachsenen hindurch, die Arme voller Pferdemist, den sie ihm ins Gesicht warfen.
Wo war jetzt Gott? Warum antwortete er nicht auf das Gebet, das dieser Mann ganz gewiss in seinem gequälten Herzen an ihn richtete? Hatte dieser Zwerg nicht bereits genug gelitten? Aber vielleicht war Gott ja zu sehr damit beschäftigt, auf die Gebete des Duke of Argyle zu antworten, der ihn um Verstärkung bat, oder mit den Fürbitten der koketten Emily Cromartie, die entsetzt ein Furunkel auf ihrer ach so hübschen Nase entdeckt hatte. Wie auch immer, Gott schien diesen kleinen Mann nicht zu hören, der inmitten von Abfällen auf dem schmutzigen Straßenpflaster lag.
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