Laqua - Der Fluch der schwarzen Gondel
mit Schiffen und Gezeiten besser aus als mancher Seemann. Da sagten die Leute, sie ist bestimmt die Tochter einer Aquana, und mit der Zeit wurde aus dem Spitznamen ein Ehrenname.«
»Und was ist eine Aquana?«
»Habe ich dir das Märchen noch nie erzählt?«
Kristina schüttelte den Kopf, bis ihr einfiel, dass er das in Afrika nicht sehen konnte. »Nein, hast du nicht.«
»Dann hör zu«, sagte Papa mit einem leisen Lachen. »Man sagt, früher, als die Stadt noch nicht stand, gab es nur ein paar kleine Inseln in der Lagune. Zauberwesen lebten dort, schöne Frauen mit Haar aus Meerschaum und Augen so klar wie das Wasser. Eine davon verliebte sich in einen jungen Fischer. Sie sorgte dafür, dass er stets volle Netze hatte, denn alle Aquanen befehlen dem Wasser und den Lebewesen darin. Auch der Fischer verliebte sich in sie und lauschte ihrem Gesang. Er wurde reich durch die Aquana, weil seine Netze immer voll waren, und in allen Muscheln, die er herausfischte, waren kostbare Perlen. Eine Weile waren die Liebenden glücklich, aber eines Tages betrog der Fischer die Wasserfrau und sie verließ ihn. Die Aquana weinte lange, sie weinte so viel, dass die Inseln überschwemmt wurden. Und noch heute, so sagt man, weint sie von Zeit zu Zeit über ihre verlorene Liebe. An diesen Tagen überschwemmt das acqua alta – das Hochwasser – die Straßen und Plätze Venedigs.«
Kristina hatte die Augen geschlossen und lauschte der Melodie seiner sanften Stimme. Hinter ihren geschlossenen Lidern begannen bereits die ersten Traumbilder zu tanzen. Violetta wirbelte in ihrem lila Festkleid vorbei, Sara ritt auf einem Hipogryphen durch die Lüfte, und die Fetzen eines zerrissenen Fotos, auf dem ein blonder junger Mann in die Kamera lachte, versanken im grünen Wasser.
Violettas Spuren
ES HATTE SICH INNERHALB VON STUNDEN herumgesprochen, dass die junge Sara Vianello das Hotel weiterführen würde. Sogar im Krankenhaus wusste man schon Bescheid, als sie am nächsten Morgen Nonna besuchten, die mittlerweile wieder zu Bewusstsein gekommen war. Natürlich war in Venedig das Krankenhaus ein prächtiges, jahrhundertealtes Gebäude, das von sechs Bögen gekrönt wurde. Mehrere Steinlöwen bewachten die Fassade. »Die Signora wird bestimmt stolz auf ihre Familie sein«, sagte die Krankenschwester mit einem Lächeln und winkte die Besucher zu einem Zimmer.
Kristina gab es einen Stich, ihre Urgroßmutter in dem zu großen Krankenhausbett zu sehen. Zierlich und zerrupft wie ein kleiner Vogel, der in einen Sturm geraten war, lag Nonna halb versunken im Kissenberg, den rechten Fuß in einem Gipsverband. Nur ihr fliederfarbenes Haar brachte ein bisschen Farbe in das viele Weiß. Jan hatte den Packen mit den alten Papieren mitgebracht, aber es war klar, dass Nonna heute keine Fragen beantworten würde. Die alte Frau blinzelte nur kurz, als Sara sie ansprach, dann murmelte sie etwas und schlief wieder ein.
»Morgen ist sie sicher ansprechbar«, sagte die Krankenschwester tröstend.
Während die anderen schon hinausgingen, beugte Kristina sich noch einmal über Nonna und streichelte ihr sacht über die runzligen Hände. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte sie der alten Frau ins Ohr. »Es wird alles gut. Aber sobald du richtig wach bist, musst du mir alles sagen, was du über Violetta weißt.«
Draußen beschien eine eisige Wintersonne die kleine Piazza vor dem Hospital. Ein Ambulanzboot tuckerte auf dem kleinen Kanal vorbei, Kinder spielten Fußball vor einer Kirche aus rotbraunem Stein. Kristina hielt sofort wieder Ausschau nach den Donnole, aber sie entdeckte nur einen zerzausten rotbraunen Haarschopf mit verrutschten rosa Glitzerspängchen. Pippa lieferte sich mit einem kleinen Jungen einen harten Kampf um den Fußball. Und im Hintergrund, an einer der weißen Säulen des Kirchenportals, lehnte eine schlaksige Gestalt, die Baseballmütze auf dem Haar, die Arme lässig verschränkt, und wartete offenbar auf die Vianellos.
»Luca!« Jan rannte los. Luca stieß sich ab und kam mit langen Schritten auf ihn zu. Sara beobachtete erstaunt, wie er Jan zur Begrüßung das Haar verstrubbelte und die beiden zusammen lachten.
»Luca Pezzi ?«, fragte Sara. »Habe ich was verpasst? Vor ein paar Tagen habt ihr euch auf der Straße angegiftet und jetzt seid ihr Freunde?«
Kristina merkte, dass sich bei dem Wort »Freunde« ein breites Lächeln auf ihr Gesicht schlich.
»Nur weil Nonna und Lucas Eltern sich nicht leiden können, muss das bei uns doch
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