Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
eines Ganzen, und hatten einander ohne Worte
verstanden.
Kade hatte geglaubt, dass er und Seth in jeder
Hinsicht identisch wären ... bis er zum ersten Mal gesehen hatte, wie sein
Bruder einem Wolfsrudel befohlen hatte, einen Grizzly zu jagen und zu reißen.
Damals waren sie noch vierzehnjährige Jungen
gewesen, die begierig darauf waren, die Grenzen ihrer Kraft und ihrer
übernatürlichen Fähigkeiten auszutesten. Seth gab damit an, dass er sich mit
einem Wolfsrudel aus der Gegend angefreundet und es geschafft hatte, mit seiner
Willenskraft mehr als ein Tier gleichzeitig zu lenken. Kade hatte das nie getan
- er hatte nicht einmal gewusst, dass er das überhaupt konnte, und Seth hatte
darauf gebrannt, es ihm vorzuführen.
Mit einem Heulen hatte er das Rudel herbeigerufen,
und bevor Kade sichs versah, rannten er und Seth mit den Wölfen und suchten
nach Beute. Sie fanden einen Grizzlybären, der in einem Fluss Lachse fing. Seth
befahl dem Rudel, den Bären zu reißen. Zu Kades Verblüffung gehorchten sie.
Aber noch verblüffender, so unendlich erschreckender war der Anblick von Seth,
der an dem Gemetzel teilnahm.
Es war eine blutige Schlacht, die sich lange hinzog
... und Seth hatte sie genossen. Über und über verschmiert mit dem Blut des
Tieres, hatte er Kade zugerufen mitzumachen, aber Kade war entsetzt gewesen. Er
hatte ins Unterholz gekotzt und sich so elend gefühlt wie noch nie in seinem
Leben.
Danach hatte Seth ihn insgeheim wochenlang
aufgezogen, ihm keine Ruhe mehr gelassen. Er hatte ihn aufgestachelt und
herausgefordert, die Grenzen seiner übernatürlichen Gabe zu testen, um
festzustellen, welcher von ihnen beiden der mächtigere Zwilling war. Und Kade
war so dumm gewesen nachzugeben. Sein Stolz hatte ihn zu einem Idioten gemacht,
und so hatte er den Fehdehandschuh aufgenommen, den Seth ihm hingeworfen hatte.
Er hatte seine Gabe so intensiv trainiert, bis sie
für ihn so selbstverständlich war wie das Atmen. Er hatte gelernt, das Gefühl
der ungezähmten Wildtiere auf seiner Haut zu lieben, die zwischen seinen Zähnen
und Fängen gefangen waren und seine Sinne überfluteten. Er war so geschickt
geworden, so süchtig nach der Macht seiner Gabe, dass es bald fast unmöglich
war, sie zu kontrollieren.
Seth hatte getobt vor Wut, dass Kades Fälligkeit
stärker war als seine. Er war eifersüchtig und unsicher - eine gefährliche
Kombination. Plötzlich hatte er Kade nichts mehr zu beweisen, und seine
gewalttätigen Neigungen brachen sich auf beunruhigende Weise Bahn.
Irgendwann hatte Seth insgeheim damit angefangen,
andere Beute zu jagen.
Er und sein Rudel hatten einen Menschen getötet.
Es war nur wenige Monate bevor Kade vom Orden
rekrutiert wurde passiert.
In seinem Abscheu und seiner Wut hatte er
vorgehabt, Seth vor ihren Vater und den Rest des Dunklen Hafens zu zerren und
seinen unentschuldbaren Verstoß gegen die Stammesgesetze öffentlich zu machen.
Aber Seth hatte ihn angefleht. Ihm hoch und heilig geschworen, dass das alles
ein schrecklicher Fehler gewesen sei - ein Spiel, das irgendwie außer Kontrolle
geraten sei. Er hatte Kade gebeten, ihn nicht zu verraten. Ihm beteuert, dass
der Mord nicht geplant gewesen sei und dass so etwas nie wieder vorkommen
würde.
Schon damals hatte Kade ihm nicht geglaubt. Er
hätte Seths Geheimnis öffentlich machen sollen. Aber Seth war sein geliebter
Bruder - seine andere Hälfte. Kade wusste, welche Auswirkungen die Information
über Seths Verbrechen auf seine Eltern haben würde, besonders auf seine Mutter.
Also hatte er das Geheimnis gewahrt.
Er hatte Seth geschützt und seinen Eltern den
Schmerz erspart, aber es hatte ihm keine Ruhe gelassen und ständig an ihm
genagt. Und als der Anruf von Nikolai in Boston kam, dass der Orden neue
Mitglieder brauchte, hatte Kade sofort zugegriffen.
Die brutalen Morde an der Familie Toms hatten das
alles wieder zurückgebracht. Er hoffte inständig, dass sein Bruder nicht dazu
fähig war, kaltblütig eine ganze Familie auszulöschen. Aber er befürchtete,
dass Seth sein Versprechen von vor einem Jahr schon nicht mehr einhalten
konnte.
Diese Angst lag Kade jetzt schwer auf der Seele,
als er auf die Tür zuging. Erst auf halbem Weg erkannte er, dass er auf einem
dicken Grizzlyfell lief, das den Wohnzimmerboden bedeckte. Und obwohl er
wusste, dass es nicht von dem Bären stammen konnte, den Seth und seine Wölfe
vor all den Jahren gerissen hatten, machte ihn das erstarrte, aufgerissene Maul
des toten Bärenkopfes
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