Lass den Teufel tanzen
indem sie sich in jener vermeintlich göttlichen Begabung des Kartenlesens übte, welche ihre Kundinnen in solche Verzückung versetzte und in Virginia jedes Mal das Gefühl weckte, tatsächlich ihren Platz im Leben gefunden zu haben. War sie dann jedoch allein und stand am Rand jenes Lochs, um hinabzusehen, konnte sie, so sehr sie sich auch bemühte, nichts und rein gar nichts darin erkennen. Zumindest nicht, bis es dann passierte. Jenes es, von dem Virginia hoffte, es würde ihr Leben für immer verändern.
Sie war nach Maglie gefahren, um sich untersuchen zu lassen. Ein Doktor im Dorf kam nicht infrage, denn das Gerücht hätte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und Angelo hätte sie umgebracht. Und so kam es, dass Virginia, als sie sich wohl zum zwanzigsten Mal die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, den Beschluss fasste, selbst eine unerträgliche Gewissheit sei immer noch besser als jener schreckliche Zweifel, der ihr seit Monaten das Leben vergällte, den Linienbus bestieg und nach Maglie fuhr, denn mit vierzig musste man einer solchen Sache beherzt ins Auge blicken. Doktor Cantalamessa war ein erfahrener Arzt und begriff offenbar sofort, in welcher Situation Virginia sich befand. Wahrscheinlich hatte er schon des Öfteren alleinstehende Mädchen und Frauen in seiner Sprechstunde gehabt, die am Anfang mit
gespielter Gleichgültigkeit auftraten, als ginge sie das alles gar nichts an und sie wären in Vertretung einer Freundin oder Verwandten hier, und dann in dem Moment, wenn er eine Schwangerschaft diagnostizierte, in eine Art Panik verfielen, die kaum noch zu verbergen war. Deshalb dachte er auch in dem Augenblick, als er Virginia enthüllte, dass sie im vierten Monat guter Hoffnung war, nicht einmal daran, ihr zu gratulieren. Rasch reichte er ihr ein Blatt Papier mit dem Befund und der Verschreibung eines bewährten Stärkungsmittels und begleitete jene Geste mit einem blitzschnellen Seitenblick, in dem Virginia das Bemühen des Arztes erkannte, gegenüber seiner Patientin nicht durchschimmern zu lassen, welch unglückliche Zukunft er ihr aufgrund seiner Erfahrung als Frauenarzt voraussagte.
Während der Rückfahrt im Linienbus hatte Virginia jenes Blatt wohl fünfhundertmal gelesen. Nur wenige karge Worte, die doch ihr Schicksal auf exakte Weise wiedergaben. Mehr als alle Lieder, als alle Sprichwörter oder Legenden kann ein medizinischer Befund unser Leben perfekt zusammenfassen, indem er zu einem Wendepunkt wird, zum Scheidepunkt zwischen dem Vorher und dem Nachher. Und man könnte in einem solch einfachen Stück Papier lesen wie in unserer eigenen Biografie.
In jenem Befund machte vor allem ein Wort Virginia betroffen: primipara . Da sie nicht den blassesten Schimmer hatte, was das klangvolle lateinische Wort bedeutete (nämlich die Tatsache, dass sie Erstgebärende war), gab sie sich, die Stirn an die Fensterscheibe des Busses gedrückt, dem einzigen Bild hin, das es in ihr heraufbeschwor: einen Papagei, einen Ara vielleicht. Einen dicken, alten Papagei, der
so beleibt war, dass er nicht mehr fliegen und nur noch mit Mühe watscheln konnte. Aufgebläht von einem Gewicht, das zu tragen seine Kräfte überstieg. Ein Gewicht, das ihn langsam machte und dazu führte, dass alle anderen Papageien glücklich und flink um ihn herumflatterten, er jedoch, der alte Ara, es nicht schaffte, sich noch einmal in die Lüfte zu erheben.
In jene Gedanken verloren und von der Müdigkeit, den Gefühlen und einem Heer von Hormonen belagert, die ihr das Herz schwer und den Körper taub machten, war Virginia eingeschlafen. Sie träumte, dass sie zu Hause war und einem Schaf die Haare wusch, einem Schaf, das genau wie all ihre anderen Kundinnen mit übergeschlagenen Beinen auf dem Stuhl saß und mit ihr plauderte. Schließlich kam Angelo und schlachtete das Schaf. Und Virginia weinte und weinte und weinte.
Dann war sie plötzlich aufgewacht, weil eine alte Dame, die neben ihr gesessen hatte, sie am Arm berührte und sie fragte, ob ihr schlecht sei. Der Bus war in Mangiamuso angelangt und stand auf dem Platz. Alle anderen Fahrgäste waren bereits ausgestiegen.
Noch ganz benommen, hatte sie sich auf den Heimweg gemacht, begleitet von den wirren Bildern alter Papageien und geschlachteter Schafe.
Und es geschah auf genau jener kurzen Strecke durchs Dorf, dass sie, nach reiflicher Überlegung, den Entschluss fasste, das Kind zur Welt zu bringen.
Am darauffolgenden Morgen stand sie vor dem Zaun von Terranera und läutete. Es
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