Lass den Teufel tanzen
nie wieder aufgestanden. Das war zu genau jener Zeit, als auch die Schafe auf dem Gutshof zu humpeln begannen, ihr Fell wurde räudig, sie hörten mit dem Fressen und dem Blöken auf, und dann war eins nach dem anderen gestorben, und das Haus füllte sich zum ersten Mal mit dem Gestank toten Viehs, das an weiß Gott was für einer Krankheit verreckt war. Jahre später hieß es im Dorf, die Tiere seien durch die Abfälle der Fabrik vergiftet worden, welche nur fünfhundert Meter vom Gutshof entfernt stand. Angelo jedoch war anders als seine Schafe, und deshalb blieb er auch am Leben.
Etwa fünf Monate nach dem Tag, an dem Fatima und Candelora Zeuginnen jener rätselhaften Begegnung zwischen ihrem Bruder und der Sapúta geworden waren, wurde Nunzio Solimene auf dem Gutshof vorstellig, im Arm ein neugeborenes Kind, und hatte sich mit Angelo ins Arbeitszimmer
zurückgezogen. Kurz darauf tauchte Angelo auf der Schwelle zum Nähzimmer auf, wo die beiden Schwestern mit gespitzten Ohren vor dem kalten Kamin saßen und vorgaben, auf ihrer fußbetriebenen Singer-Maschine Hemden zu nähen. Er hielt das Neugeborene im Arm, zeigte es den beiden Schwestern und sagte: »Solimene hat ein Problem. Vorerst bleibt das Kind hier. Ruft eine Frau her, die Milch für den Kleinen hat.« Und damit hatte sich die Sache.
Die Amme traf am Tag darauf aus Cutrofiano ein und stillte den Kleinen fast ein Jahr lang. Da niemand auf die Idee gekommen war, den Jungen zu taufen, hatten sie irgendwann begonnen, ihn Severino zu nennen, was am besten zu ihm zu passen schien. Und der Name sollte ihm bleiben. Die Amme konnte singen, und während der Säugling an ihren Brüsten nuckelte, stimmte sie folgendes Liedchen an:
Nía nía nía
La mamma fimmina vulía
Lu tata masculeddu
Cu lu porta la fatía
Nazzu nazzu nazzu
Tantu beddu cí ne’ lu fazzu
Lu videne le signure
Se lu portane a ’mpalazzu. 3
Angelo hatte den Schwestern zu verstehen gegeben, es sei besser, wenn im Dorf niemand wüsste, dass sie das Kind eines Landarbeiters bei sich aufgenommen hatten, weshalb sie vorgeben sollten, es handle sich um einen entfernten Neffen, der verwaist und bedürftig sei. Auch Severino wuchs in dem Glauben auf, ein Neffe der Geschwister Santo zu sein, und blieb bis zu seinem achten Lebensjahr bei ihnen im Haus. Bis dann eines schönen Tages Angelo, der damals bereits an den Rollstuhl gefesselt war, im Nähzimmer der Zwillingsschwestern erschien und ihnen mit einer Stimme, die rau von einem Katarrh und seiner Zuckerkrankheit war, befahl, die Habseligkeiten des Jungen zusammenzupacken, weil er beschlossen habe, ihn aufs Internat zu schicken. Am darauffolgenden Tag brachte Nunzio Solimene den Jungen nach Neapel, zum Kloster der heiligen Schwestern von San Giovanni.
Wie damals, als sie jenes Kind bei sich zu Hause aufnehmen mussten, und in all der Zeit danach, als der Junge wie ein leiblicher Neffe bei ihnen aufgewachsen war, wussten Fatima und Candelora auch bei dieser Gelegenheit, dass es nicht angebracht war, den Bruder nach seinen Beweggründen zu fragen, und so hielten sie den Mund. Eines war ihnen schon lange klar: Solange sie festen Boden unter den Füßen haben wollten, würden sie sich damit abfinden müssen, dass das Leben über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde.
Virginia und das Floß des Glücks
DIE GELIEBTE EINES Mannes wie Angelo Santo zu sein, hatte Virginia binnen Kurzem jeglicher Hoffnung beraubt. Ihre Zukunft war zu etwas geworden, das in gewisser Weise unwiderruflich war, so wie es im Allgemeinen nur die Vergangenheit ist. Hingegen war die Gegenwart in jenen Jahren gänzlich ohne Halt, etwas Fließendes, Schwebendes. Nur am Donnerstag, wenn die beiden Zwillingsschwestern das Haus verließen, um Einkäufe zu machen oder nach Maglie ins Kino zu fahren, und es ihr möglich war, Angelo zu treffen, empfand sie ihr Leben wie den Sand am Strand, der an sich keine Form hat und jedem, der nach ihm greift, durch die Finger rieselt, der jedoch, kaum wird er von einer Welle überspült, mit den Händen zu etwas geformt werden kann, das Gestalt annimmt, das zu etwas wird . Und so ging es auch ihr an jedem Donnerstag: Sie hatte das Gefühl, etwas zu werden.
Diese Virginia war kein verzagter Mensch, und sie war es nie gewesen. Aufgewachsen in einer vom Pech verfolgten Familie, in der es an allem fehlte, hatte sie schon als junges Mädchen gelernt, dass es im Leben nichts umsonst gibt, dass die Einsamkeit wie eine tote Maus ist, die einem auf dem
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