Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
ihre Sexualität selbstbestimmt ausleben oder einfach ohne Begleitung nachts durch die Straßen einer Stadt laufen - sie alle erleben tagtäglich, daß die Definitionsmacht nicht allein beim Brockhaus hegt.
In den USA geraten Naturwissenschaftler, die sexuelle Tauschgeschäfte bei Tieren beobachten, immer wieder ins moralische Kreuzfeuer, wenn sie das Verhalten der Tiere völlig leidenschaftslos als Prostitution bezeichnen. Um das Thema aber greifbar zu machen, müssen wir das, was wir meinen über die Materie zu wissen, von der Metapher trennen. Solange die Prostitution reflexhaft als Leidensweg wahrgenommen wird, ist das Stigma am Werk. Erst wenn sie primär als eine Dienstleistung, ein Einkommenserwerb verstanden wird, bei dem sexuelle, aber auch emotionale, kreative und intellektuelle Ressourcen freigesetzt werden, zeichnen sich die Mechanismen ab, die aus ein und derselben Aktivität einen Traumjob oder ein Martyrium machen können.
Klischee Nr. 6:
Geldnot treibt Frauen in die Prostitution.
Seit einigen Jahren unterhalten vor allem Privatsender ihr Publikum mit inszenierten »unmoralischen Angeboten«. Ein Reporter pirscht sich vor versteckter Kamera an Frauen in Cafes, Bars oder Diskotheken heran und bietet ihnen eine Summe x, falls sie einverstanden sind, mit ihm bzw. einem Unbekannten die Nacht zu verbringen. Manche lehnen das Angebot kategorisch ab. Andere stimmen dem Tauschgeschäft zögernd zu. Wenn der Schwindel auffliegt, flüchten manche entsetzt aus dem Blickfeld der Kamera.
Was im verborgenen bleibt, sind die Motive der Privatsender.
Andererseits wird deutlich, wie schnell die Frau von nebenan bereit sein kann, die unsichtbare Grenze zu überschreiten.
Warum sagen die einen nein und die anderen ja? Klar - bei dieser Frage schwingt nicht nur voyeuristische Neugier mit, sondern auch die Annahme, daß die Ja-Sagerinnen die Welt ihrer anständigen, ehrenwerten Geschlechtsgenossinnen verlassen. Um zu erklären, warum Frauen ohne äußeren Zwang, manche sogar ohne Not, gesellschaftliche Ausgrenzung riskieren, bemühten Experten bis vor kurzem noch eine ganze Armada psychischer Defizite: zerrüttete Familienverhältnisse, Nymphomanie, geringe Intelligenz, Labilität, lesbische Neigungen, eine Anfälligkeit für Neurosen und Psychosen aller Art.14 Die Angst vor dem Stigma einer psychischen Störung führte nicht selten dazu, daß Sexarbeiterinnen sich akzeptierter fühlen, wenn sie Geldgründe als Einstiegsmotiv angaben. Aus der Arbeit von Projekten ist jedoch bekannt, daß Frauen in unterschiedlichsten Lebenslagen und mit unterschiedlichsten Motiven in die Prostitution einsteigen. »Der Anlaß ist meist Geld, der Grund kann ein anderer sein«, so Larissa, die nach ihrem Ausstieg aus der Prostitution als Sozialarbeiterin bei einem bekannten deutschen Hurenprojekt arbeitet.
»Lust auf Sex, auf das Experimentieren, den eigenen Körper kennenlernen, Lust auf Männer, vielleicht auch der Reiz der Unterwelt, des Tabus, des Rotlichts, der Nachtarbeit, des Verbotenen, der Gefahr.«
»Obwohl finanzielle Gründe das am meisten genannte Motiv für die Aufnahme der Prostitutionstätigkeit sind, kann davon ausgegangen werden, daß häufig eine Vermischung mehrerer sozialer und psychischer Motive vorliegt«, schreiben auch die Prostitutionsforscherinnen Elfriede Steffan und Beate Leopold. Viele ihrer Probandinnen gaben finanzielle Engpässe als Haupteinstiegsgründe an, nannten aber gleichzeitig Gründe wie sexuelle Neugier, Tabubruch, Bestätigung, neue Erfahrungen etc.15 »Ich habe mir schon als ganz junges Mädchen vorgestellt, daß ich mal Prostituierte sein würde«, so auch die Bordellbetreiberin Evelin. »Damals hatte ich noch gar keine genauen Vorstellungen von dem Beruf. Ich habe Bücher wie Fanny Hill gelesen und war davon fasziniert. Als ich dann auf der Straße anfing zu arbeiten, habe ich mich in erster Linie ansprechen lassen, um Geld zu verdienen, aber eine gewisse Abenteuerlust war auch dabei.« Ältere Frauen kennen die Prostitution noch als sinnlich-vitalen Gegenentwurf zu den sexualfeindlichen Anstandsnormen einer bürgerlichen Gesellschaft. Hurenaktivistin Stefanie Klee: »Da wurde gefeiert, da wurde gelebt, und da hat man sich auch ausgelebt. Das hat mir gut gefallen. Ich wollte auch, daß die Männer Lust hatten, mit mir Sex zu machen. Das fand ich klasse. Das war das Verbotene überhaupt.«16
Die unsichtbare Grenze verläuft quer durch die weibliche Bevölkerung. Unter den
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