Lass es bloss nicht Liebe sein
Auto stand noch da.
Sobald er eine knackig runde Frucht sah, dachte er unwillkürlich an ihre Radlerhose. Ob sie eine begeisterte Radfahrerin war? Wohl eher nicht. Er im Übrigen auch nicht. Trotzdem fand er diese Radler irgendwie sexy. Und verflucht aufreizend, als sie vor ihm die Treppe hinaufgegangen war.
Vor ihr hatte ihn noch nie eine Frau um ein Gedicht gebeten. Und sie fragte so beiläufig danach, als wollte sie wissen, ob er heute schon die Tageszeitung gelesen hätte. Als wäre Lyrik eine gängige Ausdrucksform in der modernen Welt.
Nachdem sie sich getrennt hatten, lief er ziellos durch Paddington, unschlüssig, wohin er überhaupt wollte.
Lily Viola, mit ihren grauen Augen und ihren hellen Wimpern.
Die Frage nach Robbie hatte ihr absolut nicht in den Kram gepasst. Er würde künftig vorsichtiger taktieren müssen. Grundsätzlich verabscheute er es, in anderer Leute Beziehungen herumzuschnüffeln, weil das für alle Beteiligten schwierig war. Es war wesentlich einfacher, sich mit professionellen Dieben auseinanderzusetzen– da wusste man, wer der Gute und wer der Böse war.
Er schlenderte durch die hereinbrechende Dämmerung. Ihm war nicht ein einziges Gedicht geläufig, das er hätte aufsagen können. Er erinnerte sich an Fragmente von Gedichten, die er an der Highschool hatte lernen müssen, aber russische Lyrik? Leider Fehlanzeige. Zwar sprach er Russisch mit seinen Eltern, aber sie waren beide keine großen Literaten, geschweige denn Lyrikfans.
Als er sein Hotel nicht fand, fragte er in einem Pub nach dem Weg, dann bestellte er sich ein Taxi.
Lily fühlte sich unbehaglich, so ganz allein in dem großen Haus. Sie schaute dreimal nach, ob die Haustür auch wirklich verschlossen war.
Ohne Robbie, der abends sein warmes Essen und eine anständige Portion Fleisch brauchte, konnte sie sich Toast zum Abendbrot machen. Toast mit Avocado und Räucherlachs, mit jeder Menge frisch gemahlenem Pfeffer bestreut, und als Dessert einen Gin Tonic. Sie aß den Toast am Küchentisch und überflog dabei die Zeitung nach Unfallberichten, in denen Angehörige dringend aufgefordert wurden, sich zu melden, um eine unbekannte Leiche zu identifizieren. Sie nahm den Drink mit ins Schlafzimmer, drückte auf die Fernbedienung und stellte den Ton leiser. Eine Polizeiserie, in der es hauptsächlich um Autopsien ging. Eine Träne rollte über ihre Wange, und sie trank hastig einen Schluck Gin. Der Typ auf dem chromblitzenden Seziertisch könnte genauso gut Robbie sein, schoss es ihr durch den Kopf. Sie schnappte sich ihr Handy.
» Seb? Ich bin’s, Lil. Ist Robbie bei dir? Nein? Okay, ja, dann tschüss.«
Sie legte das Handy beiseite, kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und wählte erneut. Drei Anrufe später war sie genauso schlau wie vorher. Ob er bei Richard war, seinem alten Schulfreund? Mist, sie hatte dessen Handynummer nicht, außerdem verlegte Richard dauernd seine Handys. Vielleicht waren die zwei auch ausgegangen und schliefen irgendwo ihren Rausch aus.
Als Nächstes rief sie seine Eltern an.
» Lily, du? Bist du krank?«
Bevor sie antworten konnte, plapperte Esther munter weiter. » Ich dachte, du kommst mal vorbei, ich hab nämlich eine Einladung für dich. Zu Miriams Hochzeitsparty. Sie gab sie mir, damit ich sie dir gebe, weil sie deine Adresse nicht hat. Ich schlug Miriam vor, es dir am Telefon zu sagen, sie wollte jedoch unbedingt, dass ich sie dir persönlich gebe. Daraufhin hab ich Maurie gefragt, was wir machen sollen. Nein, Robbie war schon ewig nicht mehr bei uns! Und er meinte, ruf Lily an, aber jetzt bist du mir zuvorgekommen. Komm einfach mal auf einen Sprung vorbei und nimm die Einladung mit. Dann kann ich dir auch zeigen, was ich anziehen werde. Wenn du meinst, dass es für den Anlass nicht das Richtige ist, können wir beide schnell noch was anderes besorgen.«
Lily blickte abwesend auf den Fernseher. Okay, ganz offensichtlich war Robbie nicht bei ihnen.
Besser, sie sagte erst mal nichts. Sonst hätten Esther und Maurie sich Sorgen gemacht, und das wollte sie nicht. Wenn er jedoch nicht bald wieder auftauchte, würde sie es ihnen verklickern müssen.
Sie nippte an ihrem Gin Tonic. Und spürte einen ängstlichen Kloß im Hals. Wo zum Teufel steckte der Kerl? Er hatte einen Unfall gehabt, das war das Naheliegende, und sie hatte weder die Krankenhäuser noch die Nachrichten gecheckt. Sie war eine echt tolle Freundin, flirtete mit William rum und nervte ihn von wegen brisante Storys aus
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