Lass es bloss nicht Liebe sein
herkommen, als stinknormaler, sorgloser Tourist, etwas, wovon sie momentan nur träumen konnte. Rom war traumhaft, aufregend, elegant und pulsierend, aber sie war allein, ihr Leben ein einziger Scherbenhaufen. Hinzu kam, dass sie bis über beide Ohren verschuldet war, weil ihr Partner sie geleimt hatte, und zu allem Überfluss im Begriff war, sich an einen Typen zu verlieren, für den sie ausschließlich Teil seines Jobs zu sein schien.
Ihr Kaffee wurde gebracht, sie rührte abwesend darin herum, dabei wischte sie sich heimlich eine Träne von der Wange. Pfui Spinne, sie zerfloss in Selbstmitleid. Du hast anscheinend nicht mehr alle Latten am Zaun, knirschte sie stumm in sich hinein, du hast schon viel Schlimmeres durchgemacht. Reiß dich zusammen, Lily, würde ihre Mutter sagen.
Sie trank ihren Kaffee aus und beschloss, zum Apartment zurückzuschlendern. Auf dem Rückweg, allein unter fremden Gesichtern, fühlte sie sich fast noch einsamer als sonst.
Als sie in das Apartment glitt, bemerkte sie als Erstes, dass der Vorhang vor dem Schlafzimmer noch zugezogen war. Sie schloss die Tür zum Flur, nahm sich einen dicken Kunstband mit Gemälden von John William Waterhouse aus dem Regal. In seinen opulenten Sittenbildern erzählte er die Geschichten von Orpheus, Circe und Odysseus. Auf einem war die arme alte Ophelia abgebildet, einen Arm voll Blumen umklammernd, ihre Augen rot vom Weinen, fest entschlossen, sich in den Fluss zu stürzen, um den grässlichen Männern in ihrem Leben zu entsagen.
Sie lag auf dem Bauch und blätterte in einem Buch. Dabei zeichnete sich ihr Hintern rund und knackig unter dem pinkseidenen Teddy ab, den sie trug. Er beobachtete sie heimlich. Wie sollte er durch den Flur ins Bad gelangen, ohne dass sie ihn bemerkte? Sex war tabu, soviel stand für ihn fest. Erst würde sie sich für einen entscheiden müssen: Robbie oder er.
Aufgeschreckt von einem Geräusch hinter sich, rollte Lily auf dem weichen Teppich herum und setzte sich ruckartig auf. Als sie William bemerkte, der sie mit verkniffener Miene musterte, ließ sie sich aufatmend zurücksinken und vertiefte sich abermals in das Buch, auf ein Bild von Circe in einem roten Kleid. Die aufwändige Robe mit dem juwelenbesetzten Gürtel faszinierte Lily; schade, dass so etwas heute nicht mehr modern war.
» Gut geschlafen?«, fragte sie, ohne ihn anzuschauen. Sie fühlte geradezu körperlich, wie sein Blick an ihr klebte.
» Darf ich dir ein bisschen Gesellschaft leisten?«
Sie hob verblüfft den Kopf, registrierte das Lächeln, das sich zaghaft in seine Züge stahl. Sein Hemd war zerknittert, seine Haare zerzaust. Sie schluckte, denn so verschlafen sah er echt süß aus. Klar, wenn er wollte, konnte er sich gern zu ihr auf den Boden setzen. Obwohl… Sie dachte spontan wieder an ihr erotisches Abenteuer unter dem Tisch in ihrem Lagerraum und presste die Lippen aufeinander. Stattdessen deutete sie stumm mit dem Zeigefinger nach unten. » Mach es dir bequem.«
Ihre Schultern streiften einander, als sie die Seite umblätterte.
» Ich steh auf solche opulenten Bilder«, bekannte sie. » Als junges Mädchen hatte ich ein Poster davon in meinem Zimmer hängen. Hylas und die Nymphen.«
» Wieso gefallen sie dir?«
» Ist das die übliche Fangfrage des gewieften Kunstdozenten? Tut mir leid, aber ich kann dir darauf bloß eine laienhafte Antwort geben.«
Sie schaute ihn forschend an. Sein Gesicht war so dicht an ihrem, dass sie die Poren seiner Haut sah, seinen milden Duft inhalierte. Diese Nähe stimmte sie irgendwie unbehaglich, weil sie fürchtete, in Lichtgeschwindigkeit schwach zu werden. Und das kam ihr nicht mehr in die Tüte.
» Na, hör mal, ich bin schon ewig nicht mehr als Kunstdozent tätig.«
» Okay, ich mag sie, weil sie wunderschön sind. Aber erzähl das bloß keinem weiter«, seufzte sie in gespieltem Entsetzen.
» Ich werde unser Geheimnis mit ins Grab nehmen.«
» Schau dir ihre unschuldigen Gesichter an«, fuhr sie fort, » und ihre blasse Haut. Sie wussten nichts Besseres zu tun, als sich Blumen ins Haar zu flechten und in Teichen herumzuplanschen, auf denen Wasserlilien blühten. Was für ein Leben.«
» Und das gefällt dir?«
» Ich glaube, als Teenager gefällt einem so ziemlich alles, was keinen Stress bedeutet und nach Seele-baumeln-lassen aussieht. Hinzu kommt das Ästhetische, das hat mich schon immer an diesen edwardianischen Gemälden fasziniert. Früher hab ich samstags mit meinen Freundinnen die
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