Lass es bloss nicht Liebe sein
unverschlossen. Er lief ins Schlafzimmer– da war sie nicht. Er rief ihren Namen, keine Antwort.
Sie war weder im Wohnzimmer noch in der Küche oder im Bad. Es gab keinerlei Hinweis auf einen Kampf oder einen Einbruch. Er ging wieder ins Schlafzimmer. Sein Hemd lag auf dem ungemachten Bett, neben ihrem Kimono. Er nahm ihren Kimono und vergrub sein Gesicht darin, sog ihren Duft ein. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. War sie womöglich gekidnappt worden? Wenn das zutraf, würde er sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Keiner würde sie je wiedersehen.
Er lief abermals in den Wohnraum, zog sein Handy aus der Tasche. In diesem Moment sprang die Eingangstür auf, und sie glitt in den Flur. So selbstverständlich, als hätte sie einen Morgenspaziergang mit Otto gemacht.
Er schwankte zwischen Ärger und Erleichterung. Ärger über das Chaos, in dem sie steckten, Erleichterung angesichts der Vorstellung, was ihr alles hätte zustoßen können.
» Verdammt, wo bist du gewesen?«
Die Haustür hatte zum Glück noch offen gestanden. Sie hatte schwerste Bedenken gehabt, dass sie die Nacht im Freien verbringen müsste. Sie schleppte sich müde die drei Treppen hoch. Die Tür zum Apartment war gottlob nicht zugeschnappt, als sie sie jedoch aufdrückte, gewahrte sie spontan eine dunkle Silhouette am Ende des Flurs.
Es war wie in ihren schlimmsten Albträumen. Sie schrie, bekam jedoch keinen Ton heraus.
» Verdammt, wo bist du gewesen?«
Lily brauchte einen kurzen Moment, bis sie realisierte, dass es Williams Stimme war. Sie war schockiert über seine ärgerliche, aufbrausende Reaktion.
» Ich… ich war spazieren. Ich konnte nicht schlafen und… schau mich nicht so an.« Sie unterdrückte ein Schluchzen.
» Das hier ist eine verdammt ernste Sache!«, brüllte er. » Kapier das doch endlich!« Er kam näher, gefährlich langsam, jeder Muskel in seinem Körper angespannt.
Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht, bestürzt über seinen unkontrollierten Wutanfall. » Wieso bin ich eigentlich hier? Weshalb hast du mich überhaupt mitgenommen?«
» Weil ich ein Idiot bin.«
» Dann fliege ich nach Hause. Morgen, mit der ersten Maschine. Ist mir egal, was mit Robbie wird.«
Nur noch Zentimeter von ihr entfernt, sagte er leise: » Natürlich ist es dir nicht egal, was mit ihm passiert– das ist mir sonnenklar. Sechs gemeinsame Jahre lassen sich nicht mal eben unter den Tisch kehren, oder? Du hängst noch immer an ihm– trotz allem.«
» Tu ich nicht«, giftete sie ihn an und wich zurück. » Und du bist mir genauso egal wie er.«
» Ach, und deshalb machst du mich an, seit wir…« Er hielt inne mitten im Satz.
Sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und atmete tief durch.
» Interessiert mich nicht. Nicht wirklich«, sagte sie kalt. » Robbie zu verlieren tut weh. Zumal ich ihn wirklich geliebt habe. Aber dich? Bild dir da bloß nichts ein. Ich kenne dich ja kaum. Das mit uns war ein einmaliger Ausrutscher; dich zu vergessen ist eine meiner leichtesten Übungen. Du bist mir viel zu kalt. Du redest nicht mal Klartext, weshalb ich mitkommen sollte. Im Gegenteil, du verschleierst es vor dir selbst.«
Sie schob sich an ihm vorbei ins Schlafzimmer, riss den Vorhang vor. Sie hörte, wie die Tür zwischen Flur und Wohnbereich zuknallte, zweifellos hatten ihre kleinen Spitzen gesessen.
Sie warf sich auf das Bett, trommelte mit den Fäusten auf das Kopfkissen ein, wälzte sich hin und her, fand Williams Hemd. Und klatschte es in einer impulsiven Anwandlung vor die Wand. Würde er zu ihr kommen und bekennen, wie er wirklich fühlte? Oder war er zunehmend wütend auf sie und machte sich deswegen Vorwürfe, weil er sie mitgenommen hatte?
Sie wollte schleunigst zurück nach Hause.
Williams Augen wurden mit einem Mal verräterisch feucht. Er zog heimlich die Nase hoch. Vermutlich war es für alle Beteiligten besser, wenn sie zurückflog. Tu, was du nicht lassen kannst, und kehr zu deinem verdammten Robbie zurück. Meinen Segen hast du, knurrte er stumm. Meinetwegen macht mit dem Buch, was ihr wollt…
Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen und ins Bett zu zerren, wie sie es heimlich beide ersehnten. Wenn dieser Robbie nicht dauernd zwischen ihnen gestanden hätte, wäre er jetzt bestimmt bei ihr im Schlafzimmer und sie würden sich himmlischen Wonnen hingeben.
Lily klappte ruckartig die Augen auf. Sie war von einem Geräusch wach geworden und spähte in die Dunkelheit. Irgendjemand
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