Lass Es Gut Sein
sterben mitten im Leben viele Tode: der Vergeblichkeit, des Versagens, der Beziehungslosigkeit, der Öde.
Morgens, wenn du aufwachst, stellst du staunend fest: Ich bin da. Mit allen meinen Sinnen. Und du bist da. Und die Welt der vielen Farben, der betörenden Töne, lauen Lüfte, des kalten wie des warmen Wassers, des flackernden Feuers und des berstenden Eises.
Jeden Tag. Und Danke sagen für das ganze Leben. Danke sagen für jeden gelingenden Augenblick.
Wo einem einzelnen Menschen oder auch einer ganzen Gesellschaft das »Danke-Sagen« abgeht, verrohen die menschlichen Beziehungen und verflüchtigt sich das Glück. Es vermindert sich die Kraft, all dem zu Leibe zu rücken, was unglücklich macht. Nur der Glückliche kann wirklich helfen; die Dankbarkeit ist ein Kraftquell, die Unzufriedenheit produktiv zu machen. Wer, statt seine Ansprüche beständig in die Höhe zu treiben, sich begnügen kann, wird im kleinen Glück das ganz große erleben. Schon probiert?
Wir sind als vergängliche Menschen lebensfrohe und todesbewusste Wesen, die gerade wegen der Vergänglichkeit das Glück als Glück erfahren können. Glück scheint auf im Genießen wie im Sich-Freimachen von den Dingen der Welt. Freiwilliges Maßhalten ist Freiheit. Dankbarkeit schützt vor unzufriedenmachendem Anspruchsdenken. Im bewussten Verzicht wird Gewinn von Freiheit entdeckt.
Wer nach den geistigen Ursprüngen und nach den aus menschlicher Geschichte zu beherzigenden Lehren fragt, ist nicht rückwärtsgewandt – sofern er versucht, das aufzuheben, was an bewährten Lebensweisheiten, Lebenswerten und Lebensaufgaben überliefert ist. Auch das trägt nur den, der das Vergebliche, das Dunkle, das Schuldhafte und das Tragische nicht ausblendet und zugleich in jedem unbeschwerten Atemzug, in jedem schönen Augen-Blick, in jedem zarten Hautkontakt, in |240| jedem gelungenen Handgriff, in jedem schmackhaften Bissen Brot das ganze Glück erlebt. Das heißt, mitten in einem entfremdeten Leben aus zweiter Hand das Einfache, Ursprüngliche, Direkte zu entdecken und zu entfalten:
Weniges Gute, Wichtige, Tragfähige lernen; Zeugnisse großer Literatur, anrührende und aufklärende Poesie, emotionenweckende, gemeinschaftsstiftende und humane Werthaltungen transportierende Lieder sowie biblische Zentraltexte auswendig lernen, damit wir sie mit uns und in uns tragen.
Bilder alter und neuer Kunst so lange betrachten, bis ihr Hintergrund erkennbar geworden ist. Endlich selbstbewusst damit Schluss machen, sich den flüchtigen Fernsehbildern beständig auszuliefern.
In den Zeilen der Dichtung aus den Jahrhunderten die Unterzeilen entdecken. In den Mythen die Geheimnisse der Welt besser verstehen lernen.
Im Gebet zu letzter Wahrhaftigkeit und vertieftem Dasein finden.
Sich »in Gott« wie in einem großen bergenden Geheimnis mit einem unergründbaren Urvertrauen aufgehoben fühlen, selbst dann, wenn man den Abgrund vor Augen hat.
Wieder anfangen, selber zu singen. In Flüssen schwimmen, oft und lange Rad fahren, viel barfuß laufen. Auch wieder Pflaumenkuchen mit Hefeteig backen und Mus rühren, Stunde um Stunden. Vögeln ein Nest bieten. Patenschaften für Bäume übernehmen. Regelmäßig lange Spaziergänge – schweigend, redend, schauend – machen. Überkommenen Worten nachhören. Das eigene Wort so lange suchen, bis es stimmt. Briefe mit der Hand schreiben.
In der alles okkupierenden Konsumkultur widerständig bleiben und ein Leben mit innerer Freiheit entwickeln. Sich freuen an dem, was man hat, statt sich im Inneren daran zu zerreiben, was man nicht hat. Zugleich daran mitwirken, dass die Welt nicht so (ungerecht) bleibt, wie sie ist. Die Vita activa bedarf einer Vita contemplativa! Gelassenheit wird zur Kraftquelle für das Tun.
|241| Schöpferisch und eigen-willig bleiben. So raue wie schöne Einfachheit anstreben. »Schön und gut« – das tut einfach gut. Unter Reaktivierung aller sieben Sinne den Sinn im Leben durch (Er-)Leben erfahren; Sinn wird nur unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit gefunden. Sub specie aeternitatis.
Goethe schrieb: »Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.«
Einen Bissen Brot, einen einzigen, ganz lange kauen. Einen kleinen Schluck Wein über die Zunge laufen lassen. Das Geheimnis von Brot und Wein sinnlich erspüren und als Geheimnis des Glaubens erfassen. Staunen und erstaunt
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