Lass Es Gut Sein
sein können.
Den Großeltern zuhören und fragen, fragen. Den Enkeln erzählen, erzählen. Umarmen: einen Menschen, einen Baum, die ganze Welt.
Berge besteigen, Beeren pflücken. Anhalten. Luft holen. Sehen, was vor den Füßen liegt. Schauen in die weite Welt. Ein Blatt Papier, eine Holzplatte, ein Pferd, eine Katze, die Hand, eine Wange, das Haar streicheln. Ein Kuss, zwei Küsse. Küssen. Spüren: Ich bin da. Du bist da. Die Welt ist da. Noch bin ich da.
»Es ist nicht möglich, genußvoll zu leben, ohne verständig und vollkommen und gerecht zu leben. Und es ist nicht möglich, verständig und vollkommen und gerecht zu leben, ohne genußvoll zu leben.« (Epikur)
Jeder Tag kommt ganz unschuldig daher: aus dem Dunkel des Nichts, im Zwischenraum Dämmerung, bis das Licht uns die Welt zeigt. Jeder Tag – ein unschuldiger Tag. Und er ist eine Folge des vorangegangenen, Bedingung für den folgenden.
Eins ist Tag für Tag zu lernen: Wir haben nicht die Zeit. Wir haben nur den Augenblick, der jetzt schon Vergangenheit ist, wir streifen den Augenblick auf dem Wege zum Zukünftigen.
Wieder und wieder dem illusionären Wunsch entgegentreten, die Zeit festzuhalten, sie zu beschleunigen oder sie zu |242| verlängern. Jeden Tag erneut den Versuch machen, den Fluss der Zeit zu akzeptieren, das Vorübergleiten, das Ausgleiten.
»O Lust des Beginnens«, schrieb Bert Brecht. Diese Lust jeden Morgen neu erfahren. Jeder Tag ein ganzes Leben, jeder Tag ein neues Leben.
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|243| Der künftigen Generation ins Stammbuch geschrieben
Zu jeder Zeit gibt es einen Konflikt zwischen Jungen und Alten; er nimmt in einer so schnelllebigen, Traditionen abräumenden und immer älter werdenden Gesellschaft neuartige Formen und noch ungeahnte Dimensionen an.
Ich wende mich an die Nachgeborenen, weil sie mir nicht egal sind, weil ich nicht mein Genüge daran habe, dass ich es gut hatte, weil Vergangenheit für Zukunft wichtig bleibt und weil unser fast ausschließlich beherrschender Umgang mit der Welt ein Ende finden muss, damit die Menschheit sich nicht selbst an ihr Ende wirtschaftet.
I.
Mir macht Sorge, was aus euch wird und wie ihr zu dem steht, was vergangen ist. Wohl jede Generation meint, mit ihr beginne ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte. Die Jungen wollen sich nicht einfach auf ein Gleis setzen lassen, das die Alten gelegt haben, schon gar nicht akzeptieren, dass sie auch noch die Weichen stellen. Sie wollen etwas ganz Eigenes. Das führt zu Konfrontation und Konflikt. Der Dialog der Generationen kann zeitweilig verstummen, mitunter gibt es Scherben, nichts als Scherben. Aber ohne ausgetragenen Konflikt kein Erwachsen- und Selbständig-Werden!
Erich Frieds Maxime »Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt«, sollte jeder beherzigen. Und ihr Jungen dürft euch erst recht nicht abfinden mit dem, was ist, und nicht einfach funktionieren. Ihr dürft nicht so weiterleben wie wir, die wir mit unserer Wachstumsideologie voranzukommen glaubten. Wenigstens diese Einsicht möchte ich weitergeben. |244| Zugleich möchte ich eure Neugier auf unsere Erfahrung wecken. Ich kann und will euch keine Vorschriften machen, aber ich möchte euch bestimmte Erfahrungen ersparen. Ich wünschte, ihr verrennt euch nicht in Sackgassen, aus denen es kein Zurück mehr gibt.
Jede Generation lebt von den Erfahrungen vorangegangener, die auch einmal jung, ahnungslos, draufgängerisch, radikal waren. Auch wir wollten litaneiartige Erzählungen von »früher« nicht hören, haben widersprochen und versuchten, es ganz anders zu machen. Hätten wir genau darauf gesehen und gehört, wohin das Verhalten und Denken unserer Großeltern und Eltern führte, wären uns und unseren Nachkommen sehr folgenschwere Dummheiten erspart bleiben: Dass man z. B. nie wieder einem nationalistischen Rausch folgen oder einer utopischen Welterlösungsideologie vertrauen und einer selbsternannten Avantgarde nachlaufen, gar auf Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln setzen sollte, statt zu begreifen, dass Krieg der Ausdruck des Scheiterns von Politik ist.
II.
Ich verstehe, dass ihr es oft einfach satt habt, immer wieder zu hören, »wie es uns ergangen ist«. Wie ärmlich, wie kalt, wie hart es in jenen Nachkriegsjahren war. Wie bedrückend es war, als 1961 um unser kleines abgespaltenes Deutschland eine Grenze mit Todesstreifen gebaut wurde. Wie bitter es war, alternativlos zu leben, wie schwer, in einer
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