Lass Es Gut Sein
wirklich zu fragen, ob sie das, was sie haben, auch verdient haben. Fast alle, die aus dem Arbeitsprozess herausgefallen und zu Bittstellern geworden sind, kaprizieren sich auf ihre persönliche materielle Sorge als die Sorge für sich selbst, ohne sich zusammen mit anderen den politischen und ökonomischen Voraussetzungen |237| der Spaltung der Gesellschaft in Arme und Reiche entgegenzustellen und sich an der Suche nach einem neuen, tragfähigen Gesellschaftsvertrag zu beteiligen. So atomisiert sich die Not selbst, statt zum Widerstand zu werden. Ein Übriges tut die Selbstberieselung durch das, was man anschaltet, statt wirklich einmal abzuschalten, um sich dem Wesentlichen zuzuwenden.
Zur Realität gehört, dass es immer Differenzen geben wird, also unvermeidliche Unterschiede unserer physischen Konstitutionen, unserer sozialen Herkunft, unserer vererbungsbedingten Begabungen bzw. Fehlbegabungen. Es wird immer glückliche und unglückliche Umstände geben, bis hin zum Glück, in einer Zeit zu leben, in der man sich des Daseins erfreuen kann, oder eben dem Unglück, in einer Zeit zu leben, in der das Dasein unerträglich genannt werden muss – und doch auch ertragen wird, wo man im Unglück auch »Glück haben« kann. Das alles nannte man früher Schicksal oder gar Schicksalsergebenheit.
Wir leben in unseren westlichen Gesellschaften in einem Klima des Anspruchs, in dem Dankbarkeit zu einem Fremdwort wird. Ohne Dankbarkeit wird einem niemals der Reichtum des Lebens zuteil. »Gib dich zufrieden und sei stille«, galt als eine religiöse Tröstungsformel. Das ist nicht zwangsläufig eine illusionäre, duckmäuserische religiöse Zufriedenstellung, sondern durchaus eine praktisch brauchbare Lebensweisheit. Zur Lebensweisheit gehört zu akzeptieren, dass es unüberwindbare Unterschiede zwischen Menschen gibt. Man kann sie graduell vermindern, sie mit Gewalt – zeitweise! – überwinden, aber meist unter Verlust der Freiheit oder gar des Lebens aller, die von der dann geltenden Norm »abweichen«.
Das belegen alle Gesellschaften, die in die Barbarei derer ausarteten, die einer gleichmacherischen Utopie einen gesellschaftlichen Leib zu geben versuchten, ob nun die Münsteraner 1534, die Jakobiner 1789, die Bolschewisten seit 1917, die Roten Khmer in den 80er Jahren oder der einstige Befreiungsheld vom kolonialen Joch Robert Mugabe in Simbabwe. Ganz zu schweigen vom roten Terror der Massenmörder Stalin und Mao Zedong |238| oder Adolf Hitlers negativer Utopie des rassistischen Genozids, der mörderischen Reinheit einer Herrenrasse.
Widerstand
und
Ergebung sind die beiden, in Spannung zueinander stehenden Grundtugenden eines gelingenden Lebens.
Wer Verschiedenheit nicht akzeptieren will, wird seines Lebens nie froh werden. Wer Ungerechtigkeit ungerührt hinnimmt, verfehlt sein Menschsein als Mitmensch-Sein, als elementare gegenseitige Abhängigkeit, als elementare Hilfe, die wir Menschen einander geben und die wir voneinander erfahren können.
Dankbarkeit ist eine Kraft, die akzeptieren hilft. Und sie gibt zugleich Kraft, das nicht hinzunehmen, was nicht sein muss.
»Widerstand und Ergebung« hat der Freund Dietrich Bonhoeffers als dessen Lebensmaxime ausgemacht. Bonhoeffer, der unter Todesdrohung im Gefängnis saß, konnte zu Weihnachten 1943 schreiben: »Ohne jeden Vorwurf denke ich an das Vergangene und ohne Vorwurf nehme ich das Gegenwärtige hin … Die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude. Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich.«
II.
»Einer trage des anderen Last. So werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.«, schrieb der Apostel Paulus. Was ist das »Gesetz Christi«? Die Liebe. Wann beginnen? Jeden Tag. Alle Morgen neu.
Die Redewendung »Aller Anfang ist schwer« kann ein tröstlicher Satz sein von einem, der dieses Anfangen gerade hinter sich hat. Das beginnt mit dem Schrillen des Weckers am Morgen, wenn man früh raus muss. In jedem Tag steckt ein Imperativ, ein freundlicher oder ein bedrohlicher: »Mach’ einen neuen Anlauf! Spüre das Leben mit allen Sinnen. Nimm das Risiko des Tages auf dich. Bleib neugierig und zuversichtlich.«
Nichts Neues unter der Sonne. So viel tägliches Einerlei, so viel langweilende Wiederholung. Und zugleich so Schönes, Überraschendes, Unerwartetes.
|239| Jeder Tag ist ein Leben, eine täglich wieder gegebene Chance. Wir lernen im Leben zu leben. Aufzuleben! Und wir
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