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Lass Es Gut Sein

Titel: Lass Es Gut Sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Unter die Demonstranten hatten sich nicht nur Stasileute gemischt, sondern auch Leute aus der SED, die sich längst um ihre Ideale betrogen gefühlt hatten, darunter natürlich auch solche, die immer sehr klug wissen, woher der Wind weht und wie man seine eigenen Schäfchen rechtzeitig ins Trockene bringt. Man nannte sie später »Wendehälse«. Die Bürger auf den »Straßen des Oktobers« wussten aus eigener Erfahrung oder aus kritischer Beobachtung der Ereignisse in Europa und in der Welt: Wenn es gut gehen soll, muss es friedlich zugehen. Wenn es gut gehen soll, muss es ohne Provokation der sowjetischen Besatzungsmacht erfolgen. Deshalb muss das D der Demokratie vornan stehen, und es darf sich nicht plötzlich das große D Deutschlands davorschieben. Dies hätte in der Sowjetführung und Sowjetarmee immer noch Ängste des 22. Juni 1941 mobilisiert. Wer die Erstarrung der Partei- und Staatsführung samt deren Drohgebärden täglich erlitt, der hatte nicht mehr viel erwartet. Man hatte von sich selbst nicht viel erwartet. Es war eine Zeit lähmender Stagnation, es war eine bleierne Zeit, eine Zeit mit täglich ersterbender Hoffnung (vor allem durch die rasante Abwanderung der Jungen, der gut Ausgebildeten, der Motivierten und Leistungsbereiten). Und Honeckers Versprechen, die Mauer würde noch in 100 Jahren bestehen, war ja in Wirklichkeit eine Drohung (und fürs Volk auch so gemeint) gewesen, zugleich eine Beruhigung für seine Millionenpartei. Das Vorbild der chinesischen Genossen wurde uns vorgehalten (ich wurde sogar von der Staatssicherheit angerufen, ich solle mir doch die Sendungen |117| über die konterrevolutionären Ereignisse im DDR-Fernsehen anschauen, damit ich nicht weiterhin solche hetzerischen Behauptungen in die Welt setze). Ganz dicht sind wir an einem Bürgerkrieg vorbeigeschlittert; in Dresden nämlich, in den Tagen, in denen die Züge aus Prag die Flüchtlinge durch die DDR gekarrt hatten, bloß um die DDR-Führung das Gesicht wahren zu lassen, dass nämlich
sie
souverän entschieden habe, dass ihre Bürger durch
ihr
Land in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Der Garant für deren Sicherheit war aber längst der westdeutsche Außenminister geworden. Die Souveränität war schon längst aufgegeben, da es Hans-Dietrich Genscher war – ein aus Halle stammender Deutscher –, der den Flüchtlingen in der Botschaft in Prag mitteilen durfte, dass ihre Ausreise erreicht worden sei. Immerhin stand in seiner Nähe ein Mann, ohne dessen Vermittlung vieles nicht gelungen wäre, nämlich der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel. (Dass in solchen schwierigen Situationen Vermittler nötig sind, die das Vertrauen beider Seiten besitzen müssen, wurde später geleugnet, und
alle
, die mitgeholfen haben, dass es so friedlich abging, wurden letztlich zu Mittätern gestempelt. Ich nenne nur Lothar de Maiziere, Manfred Stolpe, auch Gregor Gysi.) Jedenfalls verhießen die Bilder aus Dresden nichts Gutes, und ein einziger Toter – gleich auf welcher Seite – hätte in jenen dramatischen Wochen zwischen dem 1. Oktober und dem 9. November die Weltgeschichte verändert. Die Staatsmacht hatte noch alle Mittel zuzuschlagen. Schließlich galt als das Grundcredo der Kommunisten, dass »eine Revolution nur so viel wert sei, wie sie sich zu verteidigen« wisse, und dass man seine »Macht wie einen Augapfel« hüten müsse. (Dies betonte das für Ideologie und Sicherheit zuständige Politbüro-Mitglied Hermann Axen, der sich ironischerweise während jener Ereignisse im Herbst 1989 just zu einer Augenoperation in Moskau aufhielt.) Nach den Ereignissen der ersten Oktobertage 1989 in Dresden meldete sich in vielen größeren Städten und kleineren Gemeinden plötzlich Widerstand. Man wusste, was man da auf seine eigene Kappe nahm. Gerüchte von Lagern kursierten, auch von zu Mähdreschern für Demonstranten umgebauten Lkws. |118| Aus Angst wurde Wut, aus Wut wurde aber nicht Destruktion, sondern bewusster Widerstand, bei dem sich die Bürger mehr und mehr – bis daraus Volksmassen wurden – den kleinen, vor allem in der evangelischen Kirche beheimateten oder unter ihrem Dach relativ geschützten Gruppen und deren Sprechern anschlossen. Ohne »das Volk« wären wir dissidentischen Gruppen in die detailliert vorbereiteten Lager verbracht und bald abgeschoben worden. Wer hätte vermittelt? Die heute so gescholtenen Anwälte.
    Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche erwachte ein als beglückend erfahrenes und Kreativität freisetzendes

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