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Lass Es Gut Sein

Titel: Lass Es Gut Sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Selbstbewusstsein. Die eigenen Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen, vom politischen Objekt zum Subjekt zu werden, wurde zum Glückserlebnis mit kräftespendendem Eu-Stress. Nie wieder kamen wir alle mit so wenig Schlaf aus. Aus der stickigen Warteraumatmosphäre der Stagnation kommend, fanden wir uns plötzlich im D-Zug der Geschichte.
    Jener 9. Oktober war der Tag der Demokratie und der Zivilcourage. Wenn die Leute gewusst hätten, dass es 70   000 würden, wären es bestimmt mehr als 300   000 geworden. Die 70   000 konnten sich nicht sicher sein, wie viele sie an diesem Montag werden und was mit ihnen geschehen würde. Insofern gebührt ihnen ein großer Dank – jedem Einzelnen, der sich dorthin – und sein Leben – gewagt hatte. Es war mehr als eine schöne Geste, dass im September 2005 der Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche zusammen mit Michail Gorbatschow den Augsburger Friedenspreis bekommen hat. Aber welche Zeitung berichtet heute noch über ein solches Ereignis – gar an prononcierter Stelle?!
    Sucht, was eint: Symbole der Solidarität
    Es gehört zu den tiefen Kränkungen der Ostdeutschen, dass jener 9. Oktober 1989 im gesamtdeutschen Bewusstsein eine so geringe Rolle spielt und dass es nicht gelungen ist, jenen
Tag der Selbstbefreiung
zum
Nationalfeiertag
zu machen. Bürgerrechtler |119| der ersten Stunde haben dies immer wieder anzustoßen versucht. Aber Politiker, die die westdeutsche Seele kennen, haben uns klargemacht, das sei im Westen nicht durchsetzbar. Am 9. Oktober seien schließlich nicht die Westdeutschen beteiligt gewesen, und so könne man diesen Tag nicht zum gemeinsamen Nationalfeiertag machen. Der 9. Oktober war außerdem vom 9. November überstrahlt worden, und die Diskussion ging seinerzeit nur um die Frage, ob man den 17. Juni beibehalten oder
den
9. November nehmen sollte. Gewählt wurde der 3. Oktober, ein Tag, an dem ein juristischer Akt vollzogen worden ist. Daran hängt emotional wenig.
    Wir versuchen, in jedem Jahr mit besonderen Veranstaltungen in Leipzig an den 9. Oktober zu erinnern. Kanzler Schröder, zwei Bundespräsidenten waren gekommen, 2005 der Präsident unseres Verfassungsgerichtes. Diese Veranstaltungen drehen sich um den Zustand unserer Demokratie und die Aufgaben, die wir heute haben, nicht nur um die Vergangenheit. Sie finden nur in den Regionalsendungen des Fernsehens Beachtung, größeren Tageszeitungen sind sie keine Zeile mehr wert.
    Indes stärkt die Erinnerung, dass sie etwas zustande gebracht haben, was es in der deutschen Geschichte bisher noch nicht gegeben hatte, das Selbstwertgefühl vieler Ostdeutscher: eine
friedliche Revolution
, aufgrund der wir nun schließlich vereint in Demokratie, Einheit und Frieden leben. Sie wurde eben nicht »mit Blut und Eisen« herbeigeführt und unter völkerrechtlicher Anerkennung aller Grenzen.
    Mich hat Carlo Schmids Rede »Die verlorene Revolution« vom 19. März 1948 sehr nachdenklich gemacht. Er sagte damals: »Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der an tragischem Scheitern lautersten Wollens und mutigsten Parteiergreifens so reichen Geschichte des deutschen Volkes, dass die Feiern an den Gedenktagen seiner revolutionären Erhebungen bisher immer Feiern zur Erinnerung an verlorene Revolutionen gewesen sind. Was anderen Völkern Tage des Stolzes auf ihre siegreiche Kraft bedeutet, bedeutet für uns Tage der Trauer, Tage der Erbitterung. Für manche in unserem Volke sind dies gar Tage des Verzagens, |120| und statt daraus den Mut für ein neues Beginnen zu schöpfen, finden sie in dem Ablauf der Ereignisse, deren feiernd gedacht, Grund um Grund für eine Flucht in die Abseitigkeit der Stillen im Lande.«
    Carlo Schmid fuhr fort, die Zeit werde einmal Forderungen an uns stellen, und sie müsse sie an uns stellen, »damit auch das Volk der Deutschen einmal eine siegreiche Revolution in die Annalen seiner Geschichte einschreiben kann und so endlich das Selbstbewusstsein findet, ohne das kein Volk zum Guten gedeihen kann. Solches Selbstbewusstsein aber ist immer die Frucht eines aus eigener Kraft gelungenen Durchbruchs aus dem Gestern in das Morgen, der das Vermögen hat, eine Gegenwart zu prägen und zu einem Fundament zu machen … Denn hat ein Volk einmal in seiner Geschichte vermocht, aus eigener Kraft und in spontanem Aufbruch die Petrefakte einer verjährten Vergangenheit abzuwerfen und mit ihnen Formen und Werte zu zerbrechen, die sich außerstande erwiesen haben, sich fruchtbar entfalten zu lassen,

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