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Lass Es Gut Sein

Titel: Lass Es Gut Sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Nachgeborene daraus lernen. Die angemessene Antwort auf das Scheitern einer Utopie kann nicht endgültiger Verzicht auf
jede
Utopie sein, sofern man sich selbst nicht zum Büttel des Faktischen degradieren und nur noch wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technologischen Zwangsläufigkeiten folgen will. Freiheit heißt nun auch, »frei von Utopien« zu leben, die an den mörderischen Ideologien eine nicht unerhebliche Mitschuld tragen, als ob es nicht auch Verbrechen ohne jede ideologische Rechtfertigung – dafür bisweilen mit innigem Gebet vor der Schlacht – gäbe. Wo keine (Menschheits-)Ideale mehr (als Gradmesser für eigenes Verhalten und den Bund mit anderen) individuelle oder kollektive Akzeptanz finden, stellt sich flugs der Einzelne mit seiner Interessengruppe in den Mittelpunkt. Wenn die Utopie abgedankt hat oder gar für null und nichtig erklärt wird, bekommt das
Geschäft
oberste Priorität. Und das Geschäft braucht die Macht. Und die Macht macht das Geschäft. Da opfert der einzelne Mensch nahezu alle Prinzipien, sobald sie dem Gewinn entgegenstehen. Selbstdurchsetzung, Selbstdarstellung und Selbstinszenierung rücken in den Mittelpunkt. Auf ein System, das vom Einzelnen ganz
absah
, folgte ein System, das ganz auf den Einzelnen
setzt
.
    Freilich muss sich jede utopische Vorstellung auf dem Weg in die Lebenspraxis die unvermeidliche Differenz zwischen Wünschbarem und Verwirklichbarem ehrlich eingestehen. Die angewandten Mittel sind stets am Ziel zu orientieren und zu justieren – nicht aber am schnellen Erfolg, der nach aller historischen Erfahrung zu Entartungen der Machtausübung zu geraten pflegt.
    Bleibt es nicht eine motivierende Utopie, wenn man sich einen Zustand wünscht, in dem »der Mensch dem Menschen ein Helfer« ist, wo das lateinische Diktum
homo homini lupus
entkräftet wird? Und heißt Menschsein nicht weiterhin Suche nach |113| einer lebbaren Heimat für Sterbliche, wo einem »das Einfache, das schwer zu machen ist« (Bert Brecht), ein- und heimleuchtet?!
    Das Muss der Hoffnung, nicht das des Befehls kommt zum Tragen, sobald sich einzelne Subjekte frei vereinen und einander mit aller Kraft den belebenden Atem der Freiheit und das Brot der Gerechtigkeit zu gewähren suchen.
    Wo die Alternative »Kapitalismus oder Barbarei« postuliert wird, avanciert Kapitalismus zur realisierten Utopie. Dem hat sich – trotz des Scheiterns – eine neue, den Forderungen der Gerechtigkeit verpflichtete Linke weltweit entgegenzustellen, wobei ›links‹ und ›frei‹ ebenso wenig Gegensätze sein wie Freiheit und Gerechtigkeit gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Das Ende der sozialen Demokratie unter globalisierten Bedingungen ließe die Welt ohne eine Perspektive. Deshalb wäre es billig, die Geschichte des sogenannten realen Sozialismus gedankenlos oder pauschal verdammend wegzuschieben, ohne den Gründen seines Scheiterns genauer nachzugehen. Die deformierenden oder verbrecherischen Folgen der leninistisch-stalinistischen Revolutionspraxis und der pseudowissenschaftlichen Gesellschaftstheorie müssen dabei aufgedeckt werden. Die Vision »Sozialismus« hatte gesamtmenschheitliche Hoffnungen geweckt und gigantische menschliche Kräfte freigesetzt, die aus einem rückständigen Agrarland wie Russland eine Weltmacht werden ließen, nicht zuletzt durch wissenschaftlich-technologische Leistungen und kulturelle Erfolge. Ein totalitäres Regime, mörderische Säuberungsaktionen (wahrscheinlich wurden etwa 40 Millionen Menschen in den GULAGs zu Tode geschunden) und Misswirtschaft haben den Sozialismus so desavouiert, dass er sich für absehbare Zeit erledigt hat.
    Aber die Idee sozialer Gerechtigkeit – ohne Gleichmacherei und ohne Abwürgen der Freiheitsrechte des Einzelnen – ist damit ebenso wenig obsolet geworden, wie sich das Gebot Nächstenliebe oder die Versöhnungsbotschaft Jesu durch Kreuzzüge, Inquisition und andere Verbrechen der Kirche erledigt hat.
    |114| Jetzt ist nicht Endspielzeit, sondern Zeit eines neues Beginnens, damit man endlich aufhört, sich neurotisch auf Teile des Vergangenen zu fixieren; es gilt auch das zu würdigen, was des Versuches wert war. Die vielen menschlichen Verluste dürfen niemals verschwiegen werden. Es ist indes Zeit, die Spaltung der Gesellschaft in verherrlichende oder relativierende DDR-Vergangenheit einerseits und in Dämonisierer bzw. Delegitimierer andererseits zu überwinden. Es gilt, beides zusammen zu sehen. Unsere demokratischen

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