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Lass Es Gut Sein

Titel: Lass Es Gut Sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Rechtsgrundsätze sind rückwirkend nicht ohne Rücksicht auf damalige Lebensumstände anwendbar. Man muss damalige Gesamtumstände, Motive, Zwänge, Ängste oder Irrtümer differenziert wahrnehmen – verstehen! – und dann erst alles bewerten.
    Alle Beteiligten müssen, so gut es geht, dem gerecht zu werden versuchen,
was
war und
warum
es so war, was
wahr
und was
falsch
ist. Was Recht und was Unrecht ist, darf nicht wieder eine Machtfrage sein, sondern muss eine Frage nach der Wahrheit aufgrund allgemeiner Rechtsgrundsätze bleiben. So können in den Trümmern des Vergangenen Bausteine für Zukünftiges gefunden werden – und sei es, dass sich nur sehr wenig Brauchbares findet. Um dem Fortschreiten des sozialen und mentalen Selbstwertgefälles zwischen West und Ost entgegenzutreten und eine neue Solidarität aller Deutschen zu schaffen, lohnt es sich, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen und auf Möglichkeiten einer positiven Identitätsstiftung der Ostdeutschen hinzuweisen.
    Im milden Herbst und Winter 1989 war das politische und psychologische Wunder geschehen, dass die Deutschen in der DDR nicht durch eine paternalistische Geste von außen (so hoch der Beitrag Gorbatschows auch zu bewerten ist), nicht durch eine plötzliche Veränderung der Bedingungen von außen, sondern durch eigenes Tun ein neues, ein anderes, ein unerwartetes, ein befreites
Selbstwertgefühl
erlangten. Und dazu haben sehr viele »einfache« Bürger beigetragen, die es sich nie zugetraut hatten. Sie sind inzwischen vielfach wieder im Schmoll- und Jammerwinkel, im Räsonierclub oder gar in der Verklärungsecke verschwunden. |115| Jedenfalls wurden die Ostdeutschen kurzzeitig gar von den Mehrheitsdeutschen bewundert! Endlich einmal!
    Man analysiere all die Reden, die seinerzeit gehalten wurden, die Zivilisiertheit des Dialoges, selbst die schweren Auseinandersetzungen mit den Regierenden, die sich der Kritik stellten und sich klarmachen (lassen) mussten, dass sie nicht legitimiert waren. Die Regierten lernten, sich selbst zuzugeben, dass sie durch ihr Verhalten den Unterdrückern relativ leichtes Spiel gelassen hatten. Am Ende dieses Prozesses stand eine doppelte Befreiungserfahrung: Die Unterdrückten und unmündig Gemachten wurden ebenso freigelassen wie die Unterdrücker von ihrem Unterdrücken frei wurden, wenngleich sich darunter viele aalglatte Opportunisten mischten. Man bräuchte eine Zusammenstellung jener Dialoge, bis hin zu denen mit hohen Offizieren der Volksarmee – ob im Kulturhaus der altmärkischen Kreisstadt Osterburg, ob in allen Sälen der Lutherstadt Wittenberg, ob in den Räumen des Gewandhauses in Leipzig oder in der legendär gewordenen Gethsemane-Kirche in Berlin.
    Ein herausragendes Datum der friedlichen Selbstbefreiung, ja
das
identitätsstiftende Erinnerungsdatum aus der (an-)spannenden Umbruchzeit ist der 9. Oktober 1989 in Leipzig. Das war
der
Kulminationspunkt. An diesem Tag kam es zur Entscheidung, eben nicht zur Völkerschlacht von Leipzig, sondern zum friedlichen Marsch um den Ring, der nicht in einen Platz des Himmlischen Friedens verwandelt wurde. Von diesem Tag an trauten sich auch immer mehr Menschen, die bis dahin abwartend-ängstlich geblieben waren, heraus, trauten sich eigenes Denken zu und begannen die sogenannte Feierabendrevolution des Herbstes ’89. Das war die angespannteste und schönste Zeit zugleich.
    Ich selbst konnte die völlig überraschende Entdeckung machen, dass das Volk nicht nur verführbar, käuflich und ängstlich, ressentimentgeladen und tendenziell nationalistisch ist. All das steckt in denselben Menschen, wie sich später zeigen sollte. Aber dieser andere Impuls – mit Zivilcourage, Besonnenheit und Entschlossenheit – führte zur Selbstbefreiung. An jenem 9. Oktober waren die Polizei und die Sicherheitsorgane auf ein paar Tausend |116| Menschen vorbereitet. Blutkonserven standen bereit, die Stadt war vollgestopft mit Kampfgruppen und Bereitschaftspolizei, das Stadion– wie einst in Chile – für die »konterrevolutionären Rowdys« vorbereitet. Aber es strömten trotz aller Drohgesten 70   000 Leute zusammen. Das war praktisch »das Volk«. Das war nicht polizeilich beherrschbar. Die Sicherheitsorgane waren für ihre Kommandeure nicht mehr ganz zuverlässig einzuschätzen. Die Uniformierten sahen, dass es ihre Kinder oder ihre Geschwister waren, auf die sie nicht hätten schießen wollen. Zum Gelingen trug überdies die Besonnenheit einiger Parteifunktionäre bei.

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