Lass Es Gut Sein
neidvoll faszinieren vom noch viel größeren Überfluss anderer, statt sich bewusst zu werden, wie reich er aus sich selbst und in sich selbst ist – und aus welchen Quellen ein befriedigender Reichtum kommt bzw. wie armselig Reichsein machen kann. Es geht darum, stets das rechte Maß zu finden.
Martin Luther hielt 1539 in Wittenberg eine Predigt über das Maßhalten:
»Es ist keinesfalls verboten, was zur Ehre sowie zur Lust und Freude gereicht. Der Apostel Petrus will keine sauer dreinblickenden Heiligen mit Heuchelei und Schein eines asketischen Lebens haben. Gott hat nichts dagegen, dass du dich nach deinen Möglichkeiten kleidest, schmückst und vergnügst. Allein, es muss bei einem bestimmten Maß bleiben. Essen, Trinken, Kleiden sind uns ja weder zur Notdurft noch zur Ehre und Freude verboten worden. Nur: dass wir dabei nicht unflätig und Schweine werden und so die Vernunft schändlich begraben.«
Die Evangelienlesung zum sogenannten ersten Fastensonntag »Invokavit« erzählt vom Zimmermannssohn aus Nazareth, der vierzig Tage und vierzig Nächte in der Wüste ausharrt, der hart |207| fastet, dabei den Versuchungen der Macht, des Reichtums und der ewigen Unversehrtheit zu widerstehen weiß. Äußerlich reiches Dasein verwechselt er – selbst mitten im bitteren Mangel – nicht mit erfülltem Menschsein. Er unterwirft sich nicht. Er bleibt frei.
»Führe uns nicht in Versuchung« lautet die wichtigste Bitte des Vaterunsers, verbunden mit der Bitte um »das tägliche Brot«, für jeden Tag und für jeden.
Nicht die religiöse oder quasi-religiöse Verzichtsleistung mit egomanem Glücksgefühl ist eigentliches Fasten. »Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? spricht der Herr. Das ist ein Fasten, an dem ich, Gott, der Herr, Gefallen habe: Laß los, die du mit Unrecht gebunden hast, laß ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg!«
»Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus!«, das nennt der Prophet Jesaja richtiges »Fasten« (Jesaja 58, 5–7).
Solches Fasten – als sozialpolitische Aktion und Konzeption! – bräuchte unsere jammer-reiche Welt-Gesellschaft, bräuchte jeder Einzelne: Praktische Solidarität mit den Armen, freiwilliges Abgeben dessen, was man selber nicht braucht, was aber andere bräuchten, um überhaupt zu leben. Inneres Loslassenkönnen zielt auf äußeres Abgeben.«Fasten« meint jedenfalls weit mehr als jenen zeitweiligen »Abhungertrip mit Seelenkick« einer Ich-AG. Leibliche Übung, geistige Klärung und soziales Engagement gehören in einem christlich verstandenen Fasten unabdingbar zusammen.
Scham als Sensorium des Gewissens
Jeder, der auch nur einmal schamrot geworden ist oder sich eines gravierenden Fehlverhaltens schamvoll bewusst geworden ist, hat erfahren: Scham ist ein unangenehmes
und
ein reinigendes |208| Gefühl: Ein Mensch wird sich scham- oder gar schmachvoll eines Versagens, eines schwerwiegenden Fauxpas, eines peinlichen Vergessens, einer (un-)bewussten Verschuldung vor einem anderen Menschen oder gar vor der Öffentlichkeit bewusst. Er wird nach innen oder nach außen ganz rot, fühlt sich ertappt, enttarnt, entblößt, an den Pranger gestellt. Andere wurden enttäuscht. Das Selbstbild wurde schmerzvoll zertrümmert.
Scham zu empfinden, Scham zuzulassen, Scham auszuhalten gehört zu den Grundbedingungen von (Mit-)Menschlichkeit. Sie setzt einerseits einen verinnerlichten moralischen Maßstab und andererseits eine ausgeprägte Sensibilität voraus.
Der Selbstbewusste, der Selbstgerechte, der ganz Selbstgewisse kennt kaum Scham, so wenig wie bei ihm das Gewissen anschlägt.
Der Übersensible kommt in seiner Scham um und wird vor jedem Handeln schon entmutigt. Scham ist eine moralische Empfindungsfähigkeit, sofern Moral etwas mit gelingender oder scheiternder Beziehung zu tun hat.
Sie ist immer etwas Nachträgliches, nicht etwas Warnendes wie die Stimme des Gewissens. Nachträglich schämen wir uns unserer Angst, unserer Verzagtheit, unserer ungerechten oder unbedachten Handlungsweise. Scham ist das Sensorium in der Seele, das uns – als einander verantwortliche, verpflichtete und aufeinander angewiesene Wesen – ein Fehlverhalten nicht bloß erkennen, sondern im Inneren spüren lässt.
Die im Abendland bekannteste, ja berührendste
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