Lass Es Gut Sein
Neuwerden der Welt von ganz unten her (Geburt im Stall zu Bethlehem unter einem Stern), die besondere Gefährdung der Verletzlichen (Flucht nach Ägypten). Vorhersagung und Vorbestimmung (der Stern von Bethlehem und die Sterndeuter), das Erleuchtetwerden des Menschen durch einen Menschen (Epiphaniaszeit), das Leiden und Mitleiden mit Jesus in der Passionszeit. Tod und Leben, so nah beieinander (von Karfreitag her zu Ostern hin), die Vertreibung des Bösen und die Reinigung mit Wasser und Geist (die Taufe), die Barmherzigkeit (Misericordias Domini), die Würdigung der Kinder, das Grundvertrauen ins Leben, das Beten, das Singen, das Loben, die Be-Geisterung und die wunderbare Verständigung (Pfingstwunder), die soziale Gerechtigkeit, die Erinnerung an die Zerstörung (Jerusalem-Tag), die Dankbarkeit und die Illusionen des äußeren Reichtums (Ernte-Danktag), die Einkehr und das Neue Denken (der Bußtag), das Gedenken an die Toten (Totensonntag).
So eingängige wie sperrige Texte und Lieder mit eindrücklicher Bildhaftigkeit und kühnen Abstraktionen, gefährlichen und befreienden Erinnerungen werden wieder und wieder gehört, gesprochen, gesungen. All dies wird vergegenwärtigt durch die lebensnahe Auslegung der alten Texte sowie eine lebens- und geheimnisvolle Liturgie.
Ein Schatz unserer christlich geprägten Kultur ist in die große
Musik
des Abendlandes gefasst: von der Gregorianik über die orthodoxen Gesänge bis zu Taizé oder zu den Kompositionen von Penderečki und Arvo Pärt, von Stabat Mater bis zur Matthäus-Passion, von Requien und Messen bis zu den Magnificat-Vertonungen und den Weihnachtsoratorien, von den Psalmenkompositionen des Heinrich Schütz und des Igor Strawinsky, den Choralvorspielen J.S. Bachs bis zu den Gemeindeliedern Paul Gerhardts, die jahrhundertelang Menschen getröstet, erbaut und ermutigt haben.
Die Prägung durch das Christliche spiegelt sich wider in |203|
Domen
und
Dorfkirchen
, in Fresken, Glasmalereien, Gemälden, in Skulpturen – von Riemenschneider bis Barlach, vom Isenheimer Altar bis zu Chagalls Fenstern im Fraumünster in Zürich.
Die Kirchen sind Wahr-Zeichen unserer Vergangenheit, vom Kölner und Magdeburger Dom bis zur Barockschnitzerei in dem winzigen Örtchen Osterwohle in der Altmark.
Die
Glocken
läuten, die Glocken rufen und schlagen. Sie verhallen im Lärm der modernen Großstädte. Ihr Ruf wird weithin ignoriert. Stattdessen wird das Sonntagsfrühstück heilig. Die Entfernung und Entfremdung vom Christlichen nimmt in unserem Kulturkreis zu, während andererseits neue Frömmigkeitsformen wachsen, die jede Aufklärung hinter sich lassen – bis hin zu diversen Fundamentalismen.
Neues Suchen nach Sinn, nach Rückbindung und Geborgenheit, nach Orientierung und Sicherheit kommt auf, fernab der verfassten Kirchen. Theater versuchen sich an heiliger Überlieferung (am Vaterunser, am Dekalog, an Maria und Maria Magdalena). Die Zeit alles abräumender Tabubrüche scheint vorüber.
Eine Kultur bildet sich durch Erinnerung an Gewesenes – im Dreiklang von Wissen, Verstehen und Annehmen. Vier Texte aus der Bibel persönlich zu verstehen, das würde schon genügen: den Psalm 23, das Gleichnis vom verlorenen Sohn und die Beispielgeschichte vom barmherzigen Samariter sowie das Vater-Unser-Gebet. Sie sagen alles und lassen nach mehr fragen, wenn man nicht ganz verstockt und in seinem Denken nicht auf die Schlagzeilen-BILD-Welt reduziert ist. »Wir sind auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen.« (Dietrich Bonhoeffer, 1944) Es lohnt, Fernliegendes zu begreifen und sich anzueignen. Sinnsuche ist eben auch Schatzsuche in vergangener Kultur; sie kann gegenwärtig werden, beglücken, bereichern, Atem geben.
|204| Fastenkult in der Übersättigungsgesellschaft
Es ist chic geworden, sich wieder zu alten religiösen Riten, Symbolhandlungen, spirituellen Übungen hinzuwenden. In Mode gekommen sind Zen-Buddhismus, elitär-esoterische Entrückungspraktiken bis hin zu spirituellen Wanderungen und zur Wiederentdeckung des Fastens in der Überfluss- und Überdrussgesellschaft. Ein spiritueller bzw. religiöser Kick wird gesucht – auch von Entertainern, die plötzlich den Jakobsweg gehen. Darin steckt eine tiefe Sehnsucht. Sie kommt auf, sobald man sich der Flach- und Fadheit des Alltags bewusst wird und sich nicht mit Events, medialer Gefühlsanstachelung im Horror& Thriller oder gar mit geschmacklosen Shows oder Dschungelcamps zufriedenstellen lässt.
Sogar der tiefere Sinn
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