Lass Es Gut Sein
in Lebensphasen, in Tages- und Jahresrhythmen, ins beglückende Anfangen und ins unabwendbare Aufhören.
Lieben Sie auch das Winter- und das Frühlingsgefühl, den |200| Geruch der Erntezeit und das Modrig-Trübe des November, die trocken-kalte Luft im Februar, die Rückkehr und den Abschied der Störche, den zugefrorenen See und die Entengrütze auf dem Tümpel, die unverschämt leuchtenden wilden Mohnblumen am Bahndamm, das Eichengerippe im Dezember, die Unkenrufe um Mitternacht im August und das Lärmen der Singvögel gegen Morgen, die Oktoberstürme und das Sonnenlichtflimmern? Tomaten schmecken doch im August wie Tomaten und Erdbeeren im Juni wie Erdbeeren. Mal ist es zu heiß, mal ist es zu kalt, mal ist es zu nass, mal ist es zu trocken, mal ist es zu still, mal ist es zu stürmisch – aber alles macht Leben aus.
Alles hat seine Zeit im Rhythmus des Jahres; der tut uns gut und wohl auch weh. Jeder Tag ist neu und unersetzlich, bei aller Routine. Das Kitzeln des Sonnenstrahls am Morgen, bevor der Wecker schrillt, das erfrischend kalte Wasser auf dem Gesicht, das Gedicht am Morgen oder ein Bibelwort, der erweckende Morgenkaffee, »flugs an die Arbeit gehen«, die Lust, etwas Neues zu beginnen oder Begonnenes zu beenden, das dampfende Mittagessen, die wohlige Tasse Tee nach einem kräftezehrenden Tagespensum, sodann das kurze Abendläuten, der Sonnenuntergang, die Dämmerung, der kühle Wein oder das Bierglas mit prächtiger Blume, der lang geplante Theaterbesuch oder das Bad im Fluss, das resümierende (Selbst-) Gespräch, das Nachtgebet und das Fallen in den Schlaf, das Eintauchen in die Träume. Jeder Tag – ein ganzes Leben. Trist alles für den, der nur das Einerlei spürt – wer alles wahrnimmt hat, viel mehr vom Leben.
Den Ruhetag im Wochenrhythmus, den Sonntag, verdanken wir dem siebenten Schöpfungstag. Am siebten Tage ruhte Gott von all seiner Arbeit und resümierte jeden seiner Tage: »Und siehe, es war gut.« Wer dies von sich sagen kann, der hat gelebt.
Wenn wir die Rhythmen verletzen, beschädigen wir uns selbst. Jeder Tag hat Tage hinter sich, und er verlischt in der Erwartung des nächsten Tages. Augustinus schrieb in seinen Bekenntnissen: »Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, |201| weiß ich’s nicht. Doch sage ich getrost: das weiß ich. Wenn nichts verginge, gebe es keine vergangene Zeit, und wenn nichts käme, keine künftige, und wenn nichts wäre, keine gegenwärtige Zeit.«
Wir leben immer auf der Schnittstelle der Zeiten: »Das Vergangene ist schon nicht mehr und das Zukünftige noch nicht … Wir können die Zeit nur messen, wenn wir sie beim Vorübergehen wahrnehmen. Wer aber könnte die vergangenen Tage, die nicht mehr sind, oder die künftigen, die noch nicht sind, messen? … Man kann von Rechts wegen nicht sagen, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Vielleicht sollte man richtiger sagen: Es gibt drei Zeiten, Gegenwart des Vergangenen, Gegenwart des Gegenwärtigen und Gegenwart des Zukünftigen. Denn diese drei sind in der Seele, und anderswo sehe ich sie nicht. Gegenwart des Vergangenen ist die Erinnerung, Gegenwart des Gegenwärtigen die Anschauung, Gegenwart des Zukünftigen die Erwartung.« Nicht nur unser Erleben, sondern auch das, was wir erinnern und somit immer wieder in die Gegenwart zurückholen, obwohl es lange vergangen ist, macht uns reich.
Im Laufe der Jahre kann uns die »ewige Wiederkehr des Immer-Gleichen« zum Problem werden; aber es ist nie das Gleiche und es bleibt uns ein Geheimnis.
Wer es verlernt hat, in den Rhythmen des Tages, des Jahres und der Lebenszeit zu leben, wird sein Leben verpassen. Das strukturierte Jahr, der strukturierte Tag geben dem Leben Halt, Intensität, Fülle. Im Rahmen der Zeitordnung wird die Freiheit der Zeit, die Zeit der Freiheit erfahren. Jedes Lebensalter hat seinen eigenen Geschmack, seinen eigenen Entfaltungsraum und seine eigenen Gebrechen: die Kindheit, das Erwachsensein, das Altwerden.
Im christlich geprägten Abendland war in den Jahresrhythmus das Heilsgeschehen eingepasst. Die Kirche denkt nicht vom Wochen
ende
aus und nicht »aufs Wochenende hin«, sondern stets vom Sonntag, dem Auferstehungstag, vom Anfangstag
her
auf die kommende Woche
hin
. Im Kirchenjahr wird an jedem |202| Sonntag ein Grundthema des Lebens angeschlagen. Alle Jahre wieder: Erwartung und Hoffnung angesichts des Bedrohenden (Adventszeit), das
Weitere Kostenlose Bücher