Lass Es Gut Sein
Geschichte von Schuld, Scham und Tränen ist die vom sich unerschütterlich treu gebenden Petrus, der dreimal leugnete, bis der Hahn krähte. Da ging er hinaus und weinte bitterlich. Er schämt sich nicht bloß seiner Feigheit, seines Treuebruchs – sein ganzes Selbstbild ist erschüttert.
Schamlos logen die Nazis am 1. 9. 1939, log Ulbricht im Juli 1961, log Barschel 1987 ehrenwortbewährt, log Wienand über seine Stasikontakte.
Schamlos wurde ein Krieg gerechtfertigt, der auf 16 der UNO vorgetragenen Lügen beruhte, und noch schamloser wurde das |209| Lügen einfach zugestanden – konsequenzenlos für alle Verantwortlichen.
Schamlos hat sich Ernst Welteke im Hotel Adlon bedienen lassen; schamlos hat Laurenz Meyer unverdientes Geld gescheffelt und noch schamloser von seiner Ankündigung Abstand genommen, es nachträglich einem wohltätigen Zweck zuzuführen.
Schamlos hat Klaus Esser wegen Rufschädigung geklagt, weil man ihm 30 Millionen Euro Abfindung öffentlich »geneidet« hatte.
Weit tiefer noch reicht die Scham, die darin besteht, dass der Mensch ein eigenes Geheimnis vor sich selbst zu bewahren sucht. Jeder lebt von gelungenen Verdrängungen, macht sich nicht alles klar, was in ihm steckt. Jeder Mensch braucht die Verhüllung von Bereichen seines (Da-)Seins vor anderen und hütet das Geheimnis seiner Besonderheit und Eigenheit, auch seiner individuellen Verletzlichkeit (»Lindenblatt«). Enthüllung kann geradezu etwas Barbarisches sein: eine Entblößung, die einen entkleidet, existenziell nackt dastehen lässt. Schutzlos. Ausgeliefert.
Insbesondere »jeder tiefe Geist braucht eine Maske« (Nietzsche). Alles übereinander wissen zu wollen wäre nicht bloß zerstörerisch, sondern geradezu eine Hybris. Nicht umsonst sind Märchen und Mythen voll von Verhüllung und von (gewaltsamem) Lüften gehüteter Geheimnisse.
»Wir Eichmannsöhne« nannte Günther Anders ein Buch und legte schmerzhaft etwas offen, was wir zu gerne abspalten. Wer wollte das nicht verstehen? Die bestürzenden Ergebnisse des Milgram-Experiments, durchgeführt zur Zeit des Vietnamkrieges, wurden gerne verdrängt.
Unsere
Kleider
sind unsere zweite Haut, die uns nicht nur wärmt und unsere Schamzonen
ver
hüllt, sondern uns reizvoll anzieht, etwas aus uns macht, was wir
nicht
sind, aber gerne wären.
Kleider gewähren Selbstschutz und die Möglichkeit, etwas vorzuspielen. Schamloses Spiel mit der Scham wurde getrieben, |210| als die Angeklagten des 20. Juli 1944, einst schnittige Generäle, vor Freislers Gerichtshof ihre Hosen festhalten mussten, um nicht vor allen »in Unterhosen« der Lächerlichkeit preisgegeben zu sein.
Reiner Kunze reflektiert das zynische Spiel mit der Scham in dem Gedicht »Großer Hymnus auf eine Frau beim Verhör«:
Schlimm sei gewesen
der augenblick des
auskleidens
Dann
ausgesetzt ihren blicken habe sie
alles erfahren
über sie
Sie, die mit der Scham gequält werden soll, reißt den Schamlosen die Maske so herunter, dass sie als die Freie dasteht.
Wir können beschämt werden durch die unerwartete und große Geste eines Gegners, durch ein überraschendes Geschenk, durch einen letzte Tiefen erreichenden Liebeserweis.
Scham deutet die Bibel als ein Ergebnis der selbstgewollten Entzweiung des Menschen mit Gott. Schamfrei wird der mit sich und mit anderen entzweite, der ent-kleidete Mensch erst durch die »Bekleidung« mit der Vergebung Gottes.
Nur ein zur Scham fähiger Mensch sollte größere Verantwortung für andere tragen, damit nicht Unverschämtheit zum Normalfall wird. Und der Normalbürger sollte seine Repräsentanten weder heroisieren noch verdammen. Aus Selbsterkenntnis.
Mose und die Sorge für die Alten
Mit feurigen Augen kommt Mose nach dem Bericht aus Exodus 19–20 vom rauchenden Berge Sinai. Sein Gesicht glänzt noch vom Widerschein des Allerhöchsten. Er bringt zwei Tafeln mit. |211| Erst einmal muss er sie zerschmettern. Beim zweiten Mal hält er sie dem Volke vor. Die erste Tafel regelt die Gottesbeziehung, die zweite regelt die Sozialbeziehungen und beginnt mit dem ersten »Generationenvertrag« der Geschichte: Kinder sollen ihren Vater und ihre Mutter ehren. Zum Gehorsam der Kinder gehört die Sorge für ihre hinfällig werdenden Eltern. Kinder sind für Eltern da, wie die Eltern für die Kinder da waren. Klar bleibt indes eine Machtordnung – immer behalten die Alten das Sagen und erheischen Respekt, bis die Jungen selber Alte sind.
Alle Macht den
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