Lass sie bluten
Mutter hatte wissen können, dass ihr Vater sich in der betreffenden Nacht in der Skeppargata befinden würde.
Als Natalie fertig geredet hatte, legte Ivan seine Karten ab. Er schaute auf. Begegnete ihrem Blick, doch sein Blick war irgendwie abwesend, als richtete er ihn durch die Tür hindurch irgendwohin weit weg.
Er trug ein Hemd, das grau aussah, obwohl es eigentlich weiß sein sollte. Seine Hände waren grob, und die Fingerknöchel sahen runzlig aus wie alte Lederhandschuhe. Seine Haare waren grau. Es war schwer zu sagen, wie alt er war, denn sein ganzes Gesicht war voller Narben und Falten. Und Hasdics Gesicht war wie alles andere auch: grau.
Aber seine Stimme hatte einen gewissen Rhythmus. Strahlte Ruhe, Geborgenheit, Sicherheit aus.
Er sagte: »Das, was du mir da erzählst, hört sich nicht gut an. Ganz und gar nicht gut.«
Er nahm die Karten wieder auf. Spielte eine von ihnen auf dem Tisch aus. Goran und Thomas sahen aus, als wüssten sie nicht recht, was sie tun sollten. Ivan gestikulierte mit der Hand – spielte weiter.
Sie spielten eine weitere Runde. Der Croupier teilte neue Karten aus.
Ivan sagte: »Der Wolf kann sich im Moment durchaus in Stockholm aufhalten.«
Natalie legte die Hände in den Schoß, versuchte sich zu entspannen.
Er fuhr fort: »Goran hat mir bereits ein paar Informationen gegeben. Ich habe mit Leuten zu Hause gesprochen und mich umgehört. Ich kann nur sagen, dass der Wolf Averin sehr gefährlich ist. Außer den Taten, mit denen Interpol ihn offenbar in Verbindung bringt, hat er mindestens zehn ähnliche Attentate verübt, wie ich aus anderen Quellen erfahren habe. Und es sind bestimmt noch mehr, von denen meine Quellen nichts wissen, über die jedoch jedes Mafiamitglied in Russland informiert ist. Er ist ausreichend gebildet, er hat im Laufe der Jahre Erfahrungen gesammelt, und er benutzt unterschiedliche Identitäten. Man sagt, dass er im
high end
-Segment arbeitet, wie es auf Englisch heißt, also keine Aufträge unter fünfzigtausend Euro annimmt. In Russland nennen sie ihn einen
Superkiller
; wie man mir erklärt hat, ist das ein Titel, den bisher nur vier andere Berufsmörder vor dem Wolf erhalten haben.
Er schwieg eine Weile, ließ die Aussage auf sie wirken.
»Meinen Quellen zufolge ist er vor ein paar Wochen nach Skandinavien gekommen. Wir wissen, dass er sich in Dänemark Waffen besorgt hat, und wir wissen, dass er ein Wohnungsbordell in Malmö besucht hat. Es spricht leider vieles dafür, dass er auf dem Weg nach Norden, also hierher ist. Und, das muss ich hinzufügen, das Risiko ist groß, dass er hier ist, um dir etwas anzutun.«
Ivan redete weiter. Er schilderte ihr Einzelheiten über verschiedene Verbrechen, zu denen er Informationen besaß. Er nannte ihr Details zum Ruf des Wolfs in Osteuropa. Averin war ein sogenannter Freelancer – er gehörte keiner Organisation an. Er wurde je nach Bedarf von der
avtoritety
– der russischen Mafia –, von diversen Oligarchen und zentraleuropäischen Verbrechenssyndikaten beauftragt.
»Normalerweise würde ich sagen: Wir suchen seine Mutter und seinen Vater auf. Wir suchen seine Geschwister auf und machen sie einen Kopf kürzer. Das Problem mit dem Wolf Averin ist, dass er keine Verwandten hat, jedenfalls kennt sie niemand, außer seine Schwester. Aber auch sie hat eine neue Identität angenommen. Seine Exfrau und seine Eltern sind seit langem tot. Und wenn sie noch am Leben gewesen wären, hätte ihn das nicht weiter gekümmert.«
Natalie begann zu frieren. Sie schaute auf ihre Hände hinunter. Sie zitterten.
Sie fragte: »
Kum
Hasdic – und wie lautet dein Rat?«
Ivan antwortete unmittelbar. »Wenn Stefanovic dahintersteckt, musst du ihn so schnell du kannst liquidieren. Die einzige Möglichkeit besteht darin, hart und schnell zuzuschlagen. Wenn der Wolf Averin erfährt, dass er von seinem Auftraggeber nicht länger bezahlt wird, hört er auf, dich zu jagen. Das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann. Und wenn es Probleme gibt, verspreche ich dir, dass ich dich so gut es geht unterstütze.«
Natalie dachte: Es gab nur einen Weg.
Stefanovics Schicksal war bereits besiegelt.
Sie musste nur noch dahinterkommen, wie JW sich das Ganze vorgestellt hatte.
Sie traf JW am nächsten Tag in einem der Hotels, in denen sie übernachtete. Er wurde von demselben Mann hingefahren, der ihn auch am Hotel Diplomat abgeholt hatte. Sie hatte erneut ein ähnliches Gefühl wie bei Thomas, nämlich dass auch er
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