Lass uns unvernünftig sein
zwangsläufig besser gewesen, wurde ihm klar – denn schließlich hatte sich Anabel Truman mehr als aufopferungsvoll um sie gekümmert.
Nickis frisch gewaschenes Haar war getrocknet und lockte sich nun frech um ihr engelhaftes Gesicht. Ihr Nachthemd war hellgelb und schleifte über den Boden, wobei es fast ihre klitzekleinen Zehen verdeckte. Sie war ein glückliches, unbeschwertes Kind, das geliebt wurde, und Gil wusste, dass er Anabel mehr schuldete, als er ihr jemals würde zurückgeben können.
»Es wäre mir eine Ehre«, erklärte Gil den beiden ernst. Dann – als hätte er nie etwas anderes getan – hob er seine Tochter hoch und hielt sie gegen seine Brust gedrückt. Und mit einer Selbstverständlichkeit, die auch ihn überraschte, schlang er seinen freien Arm um Anabels Taille. Für einen Augenblick bewunderte er ihre Schlankheit, ihre Geschmeidigkeit, bevor er mit den beiden zusammen in Richtung Flur ging. »Lass dir Zeit. Nimm ein langes Bad, wenn du magst. Wir kommen schon zurecht.«
Anabel schüttelte den Kopf. »Nein, nicht am ersten Abend. Ich will sichergehen, dass sie sich wohl fühlt.«
Gil wusste, dass es nicht gut war, jetzt mit ihr zu streiten. »Na ja, du kennst sie am besten.«
Ungläubig sah sie ihn mit großen Augen an.
Sie gingen ins Gästezimmer. Die Tagesdecke war vom Bett entfernt worden, und Gitter, die an ausklappbaren Halterungen unter der Matratze befestigt worden waren, sicherten die Seiten. Anabel wollte in dieser Nacht neben Nicole im Bett schlafen, aber Gils Meinung nach konnte das nur eine vorübergehende Lösung sein. Wie er allerdings Abhilfe schaffen sollte, wusste er bisher noch nicht.
Aus einem Impuls heraus küsste er Anabel auf die Stirn und ließ sie mit offenem Mund und sprachlos vor der Badezimmertür stehen. Während Anabel ihm noch hinterhersah, tat Gil so, als würde er Nicole ins Bett werfen. Die Kleine quietschte und lachte vor Vergnügen. Und Gil war sich sicher, dass das Zubettgehen ein Ritual war, an das er sich schnell gewöhnen könnte – auch mit der Mutter.
Anabel beobachtete die beiden noch einen Augenblick, bis Gil einen Stuhl ans Bett gezogen und sich gesetzt hatte. Erst dann ging sie ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Gil hörte, wie sie die Dusche anstellte, und musste sich zwingen, sie sich nicht nackt oder nass oder eingeseift vorzustellen …
»Daddy, lesen.«
»Richtig.« Gil schüttelte den Kopf, um die Gedanken an Anabel zu vertreiben, nahm das Buch und blätterte auf der Suche nach einer schönen Geschichte durch die Seiten.
Nicole krabbelte ans Ende des Bettes, kletterte von der Matratze und ging zu Gil, um sich auf seinen Schoß zu setzen. Mit ihren spitzen Ellbogen stieß sie ihm gegen den Kehlkopf und trat ihm zweimal versehentlich zwischen die Beine, bevor sie endlich ruhiger wurde. Gil ächzte, wich einem dritten Tritt geschickt aus, machte der Kleinen aber keine Vorwürfe oder schimpfte. Als sie sich gesetzt und schließlich ihre Position gefunden hatte und aufhörte, sich hin und her zu bewegen, stieß er einen erleichterten Seufzer aus. »Gut so?«
Sie nickte, drängte sich gegen seine Brust und sagte: »Mommy ist weicher.«
Darauf wollte er wetten. Er konnte sich die nächste Frage nicht verkneifen: »Hat dir denn schon mal jemand anders als Mommy vorgelesen?« Wie zum Beispiel irgendein anderer Mann, mit dem Anabel sich traf?
»Nein. Bloß Mommy.« Vorsichtig blätterte sie die Seiten in dem großen Buch um, bis sie eine bestimmte Geschichte gefunden hatte. Es gab viele Abbildungen, und Nicole richtete ihre Aufmerksamkeit auf ein ganz besonderes Bild. »Das is Mommy-Bär. Das is Daddy-Bär. Und das is Bruder-Bär«, erklärte sie stolz.
Gil drückte sie kurz. »Sehr gut.«
»Jetzt lesen.« Sie schmiegte sich an seine Schulter, rollte sich ein wenig ein, schloss die Augen, als sie gähnen musste, und steckte den Daumen in den Mund.
»Also gut, Süße. Ich lese.« Und das tat er auch. Anders als die Kinderbücher, an die Gil sich erinnerte, war dieses hier viel detaillierter geschrieben. Binnen kürzester Zeit war er selbst vollkommen in die Geschichte vertieft.
Eine Viertelstunde später – er las immer noch vor – spürte er plötzlich Anabels Anwesenheit. Er blickte auf und sah sie in der Badezimmertür stehen. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, und dicke Tränen schimmerten in ihren grünen Augen.
Er wollte etwas sagen, doch sie legte ihren Finger an die Lippen. »Das kleine Monster
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