Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
Prenzlauer Berg aufgewachsen ist und einen großartigen Ostberliner Dialekt spricht, war zur Wendezeit im vollrebellischen Alter, nämlich achtzehn Jahre alt. Er erlebte damals also nicht nur, dass es plötzlich schönere Schuhe zu kaufen und Milka-Schokolade für alle gab. Sondern auch, wie sein alles in allem geruhsamer Heimatbezirk sich plötzlich mit Menschen füllte, die zwar zuerst in friedlicher, amüsierwilliger Absicht gekommen waren, schließlich aber doch den Ostlern die Wohnungen unter dem Hintern wegkauften, die Straßen mit Papis Saab zuparkten und in den noch wenigen Kneipen und Cafés unbekannte Sachen wie Minestrone, Becks-Bier oder Laugenbrezeln zu etablieren versuchten. Er erlebte, wie sein Abitur plötzlich als zweitklassig galt, wie die Jobs seiner Eltern wegbrachen und Oma und Opa in Frührente geschickt wurden. Aus seiner Kaufhalle ist ein Einkaufsparadies geworden. Aus den verwunschenen Dachböden Lofts, aus Mietern Eigentümer, aus Freiflächen Baulücken, aus Kindern Prestigeprojekte, aus Bäckereien Backshops, aus Erdgeschosswohnungen Agenturen … Und deshalb haben er und seine Freunde sich diese Plakataktionen einfallen lassen. Sollten die Westler ruhig mal mitkriegen, dass sie noch nicht vollends gewonnen hatten.
Im Herbst 2009, zum sechzigsten Gründungstag der Bundesrepublik Deutschland, klebten sie eines, auf dem der jubelnde Fußballer Jürgen Sparwasser zu sehen war. Einst, bei der Weltmeisterschaft 1974, schoss der Mann das legendäre Siegtor der DDR -Auswahl gegen die Fußballnationalmannschaft der BRD . Der Text der Plakatisten lautete: »60 JAHRE BRD UND WIR FEIERN MIT . HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ! 35 JAHRE JÜRGEN SPARWASSER !« Das war im Vergleich zu den Vorjahren nett, ja geradezu sportlich fair. Keiner regte sich so richtig auf, niemand hörte die Signale der Ostalgiker, keiner der Angesprochenen machte sich auf den Rückweg Richtung Westen.
Also zogen sie bei ihrer nächsten Aktion die Zügel wieder straffer. Es wurde herbstlicher, die Klamottenläden verkauften schon die ersten Kindermuffs aus Biolammfell, und die Einheitsfeierlichkeiten zum zwanzigsten Mauerfalljubiläum rauschten durch Berlin, als die Plakatisten ihre aktuelle Botschaft klebten: » WIR SIND EIN VOLK ! UND IHR SEID EIN ANDERES . OSTBERLIN , 9. NOVEMBER 2009«. Verdammt unhöflich. Und noch immer ein ganzes Stück weit von dem entfernt, was heute an die Wände der eierschalefarbenen sanierten Häuser gesprüht wird. »Tötet Schwaben!« zum Beispiel. Oder »Alle raus zur Kiezmiliz«. Selbst ich als angelernte Brandenburgerin, die Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit kennengelernt hat, finde das unmöglich. Da schwingt ein Ton durch Ostberlins Straßen, der mir ebenso wenig behagt wie jene Raffke-Botschaft an die alten Ostberliner: »Ihr habt die Häuser besetzt – wir besitzen sie!«
Mein Plakatist und seine Freunde sind ruhiger geworden. Sie haben Jobs, sie haben Sorgen, Kinder, erwachsene Leben im kapitalistischen System. Sie haben ja immer noch Ostberlin – auch wenn sie ihren Prenzlauer Berg nun mit anderen Familien teilen müssen. Aber sie haben auch immer noch eine Menge Ideen für neue Plakate.
K irsten hat die Mamicard oder
W eg mit dem Plunder
I ch möchte nicht ungesellig sein, auch keine Spielverderberin. Aber es gibt ein Produkt für Eltern, von dem ich einfach nicht glauben kann, dass es jemand tatsächlich kauft und dann auch noch benutzt. Dieses Ding ist die Mamicard. Erfunden haben es trendbewusste und geschäftstüchtige Unternehmer aus der an Ideen ja nie armen Werbebranche, die ernsthaft glauben, dass Eltern für jeden Unsinn zu haben sind und über ausreichend Bares verfügen, um eben diesen Unsinn auch noch zu erwerben.
Die Mamicard geht so: Kirsten und Michael bekommen ein Kind. Bald fängt die kleine Camilla an zu krabbeln, sie strebt nach draußen Richtung Spielplatz. Dort setzt sich Kirsten mit Camilla in den Buddelkasten, und schon bald gesellt sich ein kleiner Claudius samt seiner Mutter Anne dazu. Die Kinder wälzen sich fröhlich im Sand, und die Frauen kommen ins Gespräch. Es geht um Beikost und Windelservice, um Kitaplatz und Rückbildungsgymnastik – tatsächlich verstehen sich die Frauen gut, einem Wiedersehen steht also nichts im Wege. Sie müssten nur die Handynummern austauschen und sich recht bald zusammentelefonieren.
Aber was tut Kirsten? Sie nestelt aus ihrer Tasche eine Mamicard hervor und überreicht sie Anne. Auf der Karte steht: »Kirsten, Mama von
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