Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter: Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern (German Edition)
die Zunge abbeißen, als sie zu bitten, doch erst ihre Latschen auszuziehen und dann auf dem Sofa Ritterkämpfe auszutragen. Diese Toleranz verdankt sich wohl der schonungslosen Art, die meine Eltern einst meinen Kindern gegenüber an den Tag gelegt haben – so weit will ich es nie kommen lassen.
Die Einzige, die beinhart erwachsen ist und bleibt, ist Sibylle. Sie hat sich schon vor vielen Jahren mit ihrer Familie zerstritten und ist sich und ihrer Tochter deshalb selbst Familie. Zu Weihnachten und Ostern finden in ihrer Prenzlauer-Berg-Wohnung tagelange Festlichkeiten statt, zu denen alle kommen, die die Wo-ist-zu-Hause-Frage nicht so eindeutig beantworten können wie die mehrheitlich hier lebenden Vater-Mutter-Kind-Einheiten. Also Geschiedene, Verwaiste, Langzeitsolisten, Schwule, Lesben und – wenn ich keinen Quatsch rede – auch ich. Unvergessen ein Essen am ersten Weihnachtsfeiertag, bei dem an Sibylles Küchentisch zwölf Leute saßen, die sich vorher kaum kannten und die das Fest unter großem Getöse und Gegröhle begingen, wie sie es bei Mami und Papi so nie hinbekommen hätten. Wunderbar war das und sollte jedem Familienphobiker als psychosoziale Schnelltherapie verordnet werden.
Während nun also während der Ostertage der Prenzlauer Berg so kinderarm wie nie ist, nutze ich die Gelegenheit und gehe in eines der schönstgelegenen Cafés. Unter normalen Umständen, also im gentrifizierten Alltagsbetrieb, wäre an diesem sonnigen Tag kein Platz zu finden. Das Café, sehr ansprechend in einer verkehrsberuhigten Straße gelegen, ist normalerweise in einer Art Dauerausnahmezustand – so viele Eltern und ihre Kinder samt ihren Kinderwagen, großen und kleinen Fahrrädern blockieren hier sonst den Gehweg. Heute aber hat der Wirt eine Tafel auf die Straße gestellt: »Demeter-Milch günstig abzugeben. Nur 60 Cent pro Liter!« Auf Nachfrage stellt sich heraus, dass man wegen des schönen Wetters und des damit zu erwartenden Besucherandrangs Küche und Keller mit allen nur denkbaren guten Dingen gefüllt hatte: Kuchen, Kekse, gefärbte Eier, extra viel Joghurtmüsli. Aber dann ist keiner gekommen, und nun wird die Milch sauer, weil die lieben Zugezogenen über Ostern lieber fünfhundert Kilometer in die Heimat gefahren sind, statt die Eier in den räudigen innerstädtischen Grünanlagen zu verstecken.
»Ach«, sage ich zum Wirt und bezahle meinen Kaffee, »ist doch auch mal ganz schön, wenn die Kinder sich rar machen.« Und es stellt sich heraus, dass auch dieser Geschäftsmann die eingetretene Ruhe zu schätzen weiß. Am besten gefallen ihm die freien Parkplätze und die fehlende Sturzgefahr wegen umherkrabbelnder Babys. Scheiß auf die saure Milch!
Nach dem Osterwochenende wird es dann doch wieder voll im Bezirk. Im Wegwarte-Zimmer mit der dünnen Wand erschallt pünktlich um halb sieben das Kindergetöse des unbekannten Nachbarkindes, der Berufsverkehr zerreißt meinen letzten dünnen Traumfaden, und schon krawumst das Müllauto die Straße herauf. Es nimmt alles mit: den Schmutz und die ganze schöne Ruhe, die hier vier Tage lang geherrscht hat, als alle zu Hause waren.
W ir wohnen hier oder
O stler im Widerstand
K apitalismus macht euch langweilig, hässlich und zu Faschisten!« steht auf dem Plakat. Jemand hat damit das Spielplatzschild überklebt, auf dem aufgeführt ist, wie man sich hier auf dem Kollwitzplatz zu verhalten hat. Aber die Botschaft errreicht ganz offensichtlich niemanden: In Reih und Glied stehen die Tausend-Euro-Buggys am Buddelkasten, die Mütter sind nicht hässlich, sie stecken sich die teure Tellersonnenbrille ins Haar, und die Väter ziehen den Bund ihrer G-Star-Jeans über den Bauchansatz. Kapitalismuskritik sieht wirklich anders aus.
Eine clevere Gymnasiastin zeigt den Flugblattschreibern gleich mal, was sie vom politischen System hält: offenbar eine ganze Menge. Denn direkt unter das Plakat hat sie ihr Angebot gepinnt, gegen Geld auf die Projektkinder hier am Platz aufzupassen. Dafür, dass Kapitalismus faschistoid sein soll, ist ihre Bewerbung als Babysitterin sehr charmant und professionell: »Gern lasse ich meiner Kreativität freien Lauf«, schreibt die Neunzehnjährige, »ich bastele, singe oder erkunde mit meinen Schützlingen die Natur. Dabei lasse ich mir nicht auf der Nase herumtanzen, bin aber für Schabernack zu haben.«
Um den Platz dieser jungen Prenzlauer Bergerin im kapitalistischen System muss man sich wohl keine Sorgen machen. Denn das ist exakt die
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