Lasst die Spiele beginnen: Roman (German Edition)
das Wirklichkeit wird, haben meine Assistenten und ich alles getan, was in unserer Macht steht. Jetzt schließen Sie bitte die Augen. Das ist kein Scherz, ich meine es ernst.« Zuerst sahen die Passagiere sich fragend an, gehorchten dann jedoch ein wenig verlegen.
Chiattis Stimme wurde immer klebriger. »Stellen Sie sich vor, Sie werden wieder zum Kind. Sie sind allein in einer kleinen Holzhütte, die Großmutter ist ins Dorf gegangen. Plötzlich beginnt es, am Himmel zu grummeln. Sie öffnen das Fenster, und was sehen Sie? Ganz hinten über der Ebene dreht sich ein Tornado, der auf Sie zurast. Verzweifelt versuchen Sie, sämtliche Fensterläden zu schließen und die Tür zu verrammeln, aber im Handumdrehen erfasst die Windhose das Häuschen und wirbelt Sie mitsamt der Hütte in die Luft. Das Haus dreht sich und dreht sich und dreht sich. Der Tornado wirbelt Sie immer weiter nach oben, immer höher, immer höher, über den Regenbogen hinaus.« Als Hintergrundmusik setzte eine Instrumentalversion von Over the Rainbow ein. »Und zum Schluss setzt er Sie in einer neuen, unbekannten Welt ab. In einer Welt, wo die wilde, unverdorbene Natur in Harmonie mit den Menschen existiert. Jetzt können Sie die Augen wieder öffnen. Willkommen im irdischen Paradies. Willkommen in der Villa Ada. Halten Sie sich gut fest. Eins, zwei, drei, los geht’s!«
»Oh Gott.« Ängstlich klammerte sich Simona Somaini an Fabrizios Hand fest, als der Zug losfuhr und sie in die Sitze gedrückt wurden. Mit voller Geschwindigkeit ging es ein paar Dutzend Meter durch den Wald, dann führte das Gleis steil nach oben wie bei einer Achterbahn, und sie waren über den Wipfeln der Pinien. Überall, wo sie vorbeifuhren, stoben Schwärme von bunten Papageien, grauen Kranichen und großen Geiern mit nacktem Hals auf. Dann ging es langsam wieder abwärts, und sie kamen in eine grüne Graslandschaft mit Herden von Gnus, Zebras, Büffeln und Giraffen, die sich durch den Zug offenbar nicht stören ließen. Dann gelangten sie auf eine kleine Anhöhe, wo eine Löwenkolonie in der Sonne döste, neben einem Rudel Wildhunde, und dann einen Abhang hinunter, auf dem niedrige Bäume wuchsen.
Die Passagiere schrien aufgeregt durcheinander und zeigten auf die Tiere. Im Dickicht glaubte Fabrizio Affen zu sehen. Der Zug fuhr eine weite Kurve und brachte sie langsam auf eine Höhe von etwa dreißig Metern. Von dieser Position konnte man den gesamten Park überblicken. Er bildete einen großen grünen Teppich, eingerahmt von den Wohnhäusern des Salaria-Viertels und der Hochstraße der Olimpica, die jedoch kaum zu sehen waren.
Nach einer atemberaubend steilen Abfahrt glitt der Zug am Ufer eines großen Sees entlang, wo drei schwimmende Häuser festgemacht waren. Dann tauchte der Torpedo unter, das Wasser spritzte wie eine Fontäne, und die Passagiere kreischten.
Simona war begeistert. »So viel Spaß hatte ich nicht einmal bei den Piratenkaskaden in Gardaland.«
Der Zug kehrte um und fuhr auf ein Gebäude mit Türmchen und italienischem Garten zu, wo die Hecken zu großen geometrischen Mustern geformt waren. Dort wurde er schlagartig langsamer und hielt an. Die Türen öffneten sich mit einem Zischen. Auf dem Bahnsteig wurden sie von Hostessen erwartet, die ihnen Ferngläser und Fotobroschüren über die Tiere des Reservats anboten.
»Wo gibt’s hier was zu trinken? Ich brauche jetzt einen Bourbon«, sagte Ciba und verkniff es sich wohlweislich, die tiefe Verachtung zu äußern, die er für Chiatti und dessen dämliche Pseudosafari empfand. Ganz zu schweigen von der hanebüchenen, aus dem Zauberer von Oz geklauten Einstimmung. Diese Verachtung würde er wachsen lassen, an ihr feilen, sie ins Sublime steigern und dann in einem Artikel für die Repubblica mit der Wucht einer Atombombe hochgehen lassen.
Bei diesem Gedanken fühlte er sich gleich besser. Er war immer noch das Enfant terrible von einst, ein scharfsinniger, bissiger Schriftsteller, der so verletzend sein konnte wie ein herumfliegender Splitter, und er würde diesem pathetischen Jahrmarkt den Garaus machen.
29 Zur gleichen Zeit fand hinter dem Geräteschuppen das Briefing der Bestien des Abaddon statt.
Mantos hatte es sich auf einem Aufsitzrasenmäher bequem gemacht. »Jünger, hört mir gut zu.« Aus dem Rucksack holte er ein altes Stadtplanheft hervor, leckte den Zeigefinger an und begann zu blättern. »Das ist Villa Ada.« Er legte den Plan auf die Kühlerhaube, und alle beugten sich darüber.
Weitere Kostenlose Bücher