Lasst die Spiele beginnen: Roman (German Edition)
Schulkameraden zu. »Was? Wovon redest du?«
Bocchi gähnte. Dann nahm er Cibas Hand. »Offenbar hast du es immer noch nicht kapiert. Die Zeiten, wo man sich bis auf die Knochen blamieren konnte, sind endgültig vorbei, mausetot und begraben wie das alte Jahrtausend. Es gibt nichts Peinliches mehr, das ist ausgestorben wie die Glühwürmchen. Keiner findet mehr irgendwas peinlich, außer dir, da, in deinem Kopf. Siehst du die da?« Er deutete auf die Menge, die Chiatti applaudierte. »Wir suhlen uns im Dreck, glücklich wie die Schweine im Koben. Nimm mich zum Beispiel.« Schwankend stand er auf und breitete die Arme aus, wie um sich allen zu zeigen, aber dann wurde ihm schwindelig, und er musste sich wieder setzen. »Ich habe eine Facharztausbildung bei Professor Roland Château-Beaubois in Lyon gemacht, ich habe einen Lehrstuhl in Urbino und bin Chefarzt. Aber guck mich mal an. Nach alten Maßstäben wäre ich eine wandelnde Zumutung, einer, dessen Gesellschaft man meidet, ein neureicher Rüpel, ein Junkie, ein Kotzbrocken, der die Schwächen von ein paar Tussen ausnutzt, um sich eine goldene Nase zu verdienen – aber im Gegenteil: Ich bin beliebt, werde respektiert und überall eingeladen, am Nationalfeiertag sogar in den Quirinal, und zu jeder beknackten Fernsehdiskussion sowieso. Entschuldige, wenn ich jetzt persönlich werde … Aber deine Fernsehsendung, die war doch der letzte Dreck, oder?«
Ciba versuchte, sich zu verteidigen. »Eigentlich …«
»Lass gut sein, das war oberpeinlich.«
Fabrizio nickte.
»Und die Geschichte mit dieser Frau, der Tochter … Ich hab’s vergessen, ist ja auch egal, das war doch unsäglich peinlich, oder?«
Ciba verzog gequält das Gesicht. »Jetzt reicht’s aber.«
»Und was ist danach passiert? Nichts, überhaupt nichts. Wie viele Bücher hast du nach diesem angeblich superpeinlichen Auftritt verkauft? Eine ganze Menge. Und jeder hält dich für ein Genie. Hab ich nicht recht? Was du als Peinlichkeit bezeichnest, ist der Medienrummel, der einem Menschen Glanz verleiht und ihn menschlich und sympathisch macht. Wenn ethisch und ästhetisch alles erlaubt ist, dann gibt’s auch keine Blamage mehr.« Bocchi beugte sich zu Ciba und umarmte ihn liebevoll. »Und weißt du, wer der Einzige ist, der in seinem Leben nie eine peinliche Figur abgegeben hat? Nicht eine einzige?«
Ciba schüttelte den Kopf.
»Jesus Christus. Nicht eine, in dreiunddreißig Jahren. Und damit ist alles gesagt. Aber jetzt tust du mir einen Gefallen und nimmst dieses Bonbon.« Bocchi zog eine violette ovale Pille aus der Tasche.
Fabrizio musterte sie misstrauisch. »Was ist das?«
Bocchi riss die Augen auf, die Augäpfel traten aus den Höhlen wie bei einer Kröte, und im Ton eines alten Krämers, der mit Raritäten handelt, sagte er: »Das ist die Phenylessigsäure Benjorex. Das ist nicht irgendeine Droge, die gibt’s sonst nirgends.« Er klopfte sich auf die Brust. »Das ist was ganz Besonderes. Das gibt es nur bei Papa. Du kennst doch Rauschpilze, Peyote, Ecstasy, MDMA? Die sind im Vergleich hierzu harmlos. Bei Human Rights Watch steht Benjorex auf der Liste der chemischen Waffen. In russischen Gefängnissen haben Neuropsychiater damit experimentiert, um bei tschetschenischen Terroristen eine Regression in die Kindheit auszulösen, und die russische Raumfahrtbehörde hat damit die psychotropischen Effekte der Schwerelosigkeit getestet. Jetzt werfen wir beide eine davon ein, dann verwandelt sich dieser Jahrmarkt schlagartig in die Welt von Oz, und wir beide amüsieren uns prächtig.« Dabei ließ er eine der Pillen in Cibas Jacke gleiten.
Doch Ciba sprang erschrocken auf und wich drei Schritte zurück. »Bocchi, du bist wirklich krank. Du bist nicht nur drogenabhängig, sondern auch ein Psychopath. Du willst mich umbringen, gib’s zu. Du hasst mich. Tschetschenen … Schwerelosigkeit … Ende der Peinlichkeiten … Tu mir einen Gefallen. Ich flehe dich an. Lass mich in Ruhe. Du und ich, wir hatten nie irgendwelche Gemeinsamkeiten. Nicht mal in der Schule. Wir waren noch nie Freunde, Brüder, wir waren überhaupt nichts. Wir haben nichts gemeinsam, und deshalb tu mir einen Gefallen, lass mich in Ruhe, und wenn du mich siehst, wechsel die Straßenseiten.«
Bocchi grinste ihn an. »Okay.« Er holte noch eine Pille heraus, warf sie ein und gab sich mit dem Mojito den Rest.
39 Inzwischen war Sasà Chiatti zur Erläuterung der Tigerjagd übergegangen.
»Wie uns die viktorianische Tradition
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