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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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tausendmal von mir grüßen und ihr sagen, dass ich sie liebe, dass sie meine einzige Freundin ist.
    Nun leb’ wohl, Du, mein Liebling. Tausend Küsse von Deinem Weib.
    Er fing an, den Brief wieder von vorn zu lesen.
    »Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester …«
    Ein heftiges Licht durchfurchte seine Seele.
    Er sah deutlich Agaj vor sich sitzen. Das schwarze seidene Kleid schmiegte sich mit warmer Wolllust um die schlanke, magere Gestalt. Er fühlte durch das Kleid die feinen, zarten Glieder.
    Er ließ sich in den Fauteuil [88] sinken.
    Sie wich nicht von ihm. Immer sah er sie dicht, dicht neben sich. Er entkleidete sie mit den Augen, er wühlte in ihrer Nacktheit, er begehrte sie: Sein Gehirn begann, in einem gierigen Taumel zu wirbeln.
    Aber Agaj ist ja meine Schwester!, schrie er entsetzt in sich hinein.
    Da hörte er sie plötzlich sprechen. Er verstand nun alles, was er noch vor drei Stunden nicht verstehen konnte.
    »Sie liebt Dich eigentlich gar nicht wie eine Schwester …«
    Die paar Worte schlugen sich tief in seine Seele. Es war, als wäre dort ein Pünktchen Licht hineingefallen, das nun plötzlich zu einer Feuersbrunst ausgewachsen war.
    »Als du das letzte Mal ins Ausland fuhrst, glaubt ich, dass ich verrückt würde.«
    Er hörte es damals fast gleichgültig an, und jetzt, jetzt endlich verstand er es.
    Er riss die Augen auf. Er riss sie noch weiter auf: Das furchtbare Licht blendete ihn.
    Er kroch ganz in sich zusammen. Ein schmerzhafter Wolllustkrampf fraß saugend an seinem Hirn, er wehrte sich nicht: Die Schauer einer gierigen Lust krochen wie Gift in jeden Nerv seines Körpers.
    Er schrak hoch.
    Das war das grässliche Fieber! Gott, Gott, was sollte er nur anfangen? Er musste wachen, er musste lauern und wachen, dass es nur nicht wiederkäme. Seine eigne Schwester! … Aber das ist ja Wahnsinn …
    Er lachte irrsinnig. Er lachte lange, bis er Angst vor seinem Lachen bekam.
    Natürlich war es das Fieber. Dass er dagegen so machtlos war! … Er musste ins Bett zurück. Ja, sich ganz lang hinlegen, dass das Herz sich wieder beruhige.
    Er entkleidete sich und legte die Streichhölzer dicht neben sein Bett.
    Ich werde sie wohl bald wieder brauchen, lächelte er seltsam.
    Nun löschte er die Lampe aus. Eine unerträgliche Hitze. Die Decke lastete auf ihm wie ein Alb: Er warf sie ab.
    Plötzlich mit einem Ruck spannte sich sein Gehirn ab, eine glückliche Ruhe kam über ihn.
    Ein paar Gedankenbrocken gingen langsam durch seine Seele, zögernd, zerrissen, wie Wolkenlappen nach einem Gewitter. In seinen Augen flackerte ein winziges Lichtchen, wie ein Irrlicht über einem grünen Sumpf. Er verfolgte es, wie es sich in zackigen, steilen Linien emporwarf und wieder herunterfiel, schwer und jäh wie ein gefallener Stern. Er sah es über dem Sumpf blitzschnell dahinschießen und dann wieder in irren Kreisen tanzen, schneller und schneller, bis es schließlich wie eine glühende Lichtmasse fahl den Sumpf umlohte. Und die grüne, fahle Sonne wuchs, schwoll, goss sich kochend über, leckte an dem Dunkel mit gierigen Zungen und zerfraß es zu blutigen Fetzen. Und da schossen die Zungen in schmetternden Sturmfanfaren jäh hinauf – höher noch: Mit wüster Macht warfen sich die Sonnenbrände steil empor, bis sie am Himmel zerschellten. Noch sah er sie drängend emporzüngeln, dann brachen sie langsam an der Spitze, krochen zögernd ineinander und verschlangen sich in einem brünstigen Geflecht.
    Und aus dem kochenden Orkan des Lichtes wuchs ihm ein entsetzlicher Gesang hervor.
    Eine Verzweiflung wie vor tausend offenen Gräbern. Als hätte sich der Himmel geöffnet und der Menschensohn stiege hernieder, um das Gericht über die Guten und die Bösen zu halten. Millionen Hände fühlte er sich in verblutendem Todeserethismus emporrecken mit Fingern, die um Mitleid und Gnade schrien. Er hörte ein tierisches Gebrüll, das wie ein Meer von dampfendem Blut in kochendem Gischt zum Himmel spritzte, und immer fühlte er die knochigen Finger sich krallen und spreizen und im brechenden Schmerzenskrampfe schreien:
    »Ad te clamamus exules filii Hevae, ad te supiramus gementes et flentes in hac lacrymarum valle« [89] …
    Und er sah einen Zug von Tausenden von Menschen vorbeirasen, gepeitscht von einer brutalen Ekstase des Unterganges, unter einem Himmel, der das Feuer und die Pest auf sie herabspie. Er sah die Seele dieser Kreaturen in dem ekelhaften Veitstanz des Daseins sich wälzen und zucken, er sah

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