- Lasst die Toten ruhen
den Wölfen, die flüchten, wenn ich mich nähere, wie Ihr selbst wisst, als wenn sie bloße Welpen wären, die die Peitsche fürchten.«
»Aber Ihr müsst dennoch einsam, sehr einsam sein«, beharrte Bertha.
»So wäre es am Tag, aber da schlafe ich«, antwortete der Fremde trocken. »In der Nacht bin ich froh genug.«
»Ihr jagt auf eine ungewöhnliche Art«, merkte Franz zögernd an.
»Ja, aber nichtsdestoweniger habe ich keine Verbindungen zu Räubern, wie Ihr Euch anscheinend vorstellt«, erwiderte Azzo kalt.
Franz zuckte erneut – eben jenes war ihm gerade durch die Gedanken gegangen. »Oh, ich bitte um Verzeihung, ich wusste nicht –«, stammelte er.
»Was von mir zu halten ist«, unterbrach der andere. »Ihr würdet daher gut daran tun, das zu glauben, was ich Euch sage, oder wenigstens das Mutmaßen zu unterlassen, welches zu nichts führt.«
»Ich verstehe Euch: Ich weiß Eure Ideen zu würdigen, auch wenn es kein anderer macht«, rief Franziska eifrig. »Das eintönige Alltagsgeschäft der Menschen stößt Euch ab, Ihr kostetet die Freuden und den Frohsinn des Lebens, oder was man zumindest so nennt, und befandet sie für zahm und hohl. Wie schnell ermüden einen die Dinge, die einen umgeben! Das Leben besteht aus Wandel. Nur in dem, was neu, ungewöhnlich und befremdlich ist, können die Blumen des Geistes erblühen und ihren Duft verströmen. Sogar Schmerz kann zur Lust werden, wenn er einen nur vor dem Einerlei des Alltags bewahrt – ein Ding, das ich bis an mein Lebensende hassen werde.«
»Wahr, schöne Dame, sehr wahr! Bewahrt Euch diese Haltung, denn dies war immer meine Ansicht und um ihretwillen habe ich die höchste Belohnung erhalten«, rief Azzo. Seine grimmigen Augen funkelten mehr als je zuvor. »Ich bin doppelt erfreut, da ich in Euch einen Menschen fand, der meine Ansichten teilt. Oh, wenn Ihr ein Mann wäret, würdet Ihr mir ein feiner Gefährte sein, doch selbst eine Frau mag diese raffinierten Erfahrungen machen, sobald diese Haltung sich in ihrem Geiste verwurzelt und Taten hervorbringt!«
Nachdem Azzo diese Worte im Ton kalter Höflichkeit gesprochen hatte, ließ er das Thema fallen. Für den Rest des Besuchs gab der Ritter nur noch einsilbige Antworten und nahm Abschied, bevor das Abendmahl abgeräumt wurde. Auf die Einladung des Ritters, den Besuch zu wiederholen, die von Franziska mit Nachdruck unterstützt wurde, antwortete er, dass er ihre Freundlichkeit nicht ungenutzt verstreichen lassen wolle und irgendwann wiederkommen würde.
Sobald der Fremde gegangen war, wurden viele Bemerkungen über seine Erscheinung und sein generelles Benehmen gemacht. Franz erklärte am entschiedensten sein Missfallen. Ob Franziska nun wie üblich ihren Cousin ärgern wollte oder ob Azzo sie wirklich beeindruckt hatte, sie verteidigte ihn nachdrücklich. Da Franz ihr eifriger als üblich widersprach, griff die junge Dame zu immer stärkeren Ausdrücken, und wer weiß, welch’ harte Worte ihr Cousin hätte hören müssen, wäre nicht ein Diener eingetreten.
Am nächsten Morgen lag Franziska länger als gewöhnlich im Bett. Als ihre Freundin ihren Raum betrat, fürchtend, dass sie krank sei, stellte jene fest, dass sie bleich und erschöpft war. Franziska erklärte, dass sie eine sehr schlechte Nacht gehabt habe; sie nahm an, dass der Streit mit Franz über den Fremden sie sehr erregte haben müsse, da sie sich fiebrig und erschöpft fühle. Außerdem habe sie einen seltsamen Traum gehabt, der ihr Sorgen bereite; offenkundig eine Folge des abendlichen Gesprächs. Bertha ergriff wie üblich die Partei des jungen Mannes und ergänzte, dass ein gewöhnlicher Disput über einen Mann, den niemand kenne und über den sich jedermann sein eigenes Urteil bilden solle, ihr nicht diesen Zustand habe bescheren können. »Wenigstens«, fuhr sie fort, »kannst du mir den wunderbaren Traum erzählen.«
Zu ihrer Überraschung sträubte sich Franziska eine Zeit lang.
»Komm, erzähl’ ihn mir«, drängte Bertha, »was könnte dich davon abhalten, den Traum zu erzählen – einen bloßen Traum? Ich könnte beinahe denken, wenn die Vorstellung nicht zu grässlich wäre, dass der arme Franz nicht ganz unrecht hat, wenn er sagt, dass dieser dürre, leichenhafte, ausgetrocknete, altmodische Fremde dich stärker beeindruckt habe, als es dir lieb sei.«
»Sagte Franz das?«, fragte Franziska. »Dann kannst du ihm ausrichten, dass er sich nicht irrt. Ja, der dürre, leichenhafte, ausgetrocknete,
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