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- Lasst die Toten ruhen

- Lasst die Toten ruhen

Titel: - Lasst die Toten ruhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Kotowski
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schrullige Fremde ist weit interessanter als der rotwangige, gut gekleidete, höfliche und öde Cousin.«
    »Bizarr!«, rief Bertha. »Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie solch’ abstoßender Mann diese beinahe magische Macht über dich haben kann.«
    »Vielleicht ergreife ich aus genau diesem Grund seine Partei: Ihr alle seid mit Eurem Urteil über ihn schnell zur Hand«, bemerkte Franziska schnippisch. »Ja, es muss wohl so sein, denn dass sein Erscheinungsbild wohlgefällig wäre, könnte sich niemand vorstellen, der bei Sinnen ist. Aber«, fuhr sie fort und reichte ihre Hand lächelnd Bertha, »ist es nicht lächerlich, dass ich die Ruhe verliere, sogar wenn ich mit dir über den Fremde rede? – Ich kann das viel leichter verstehen bei Franz – und das dieser Unbekannte meinen Morgen verderben soll, nachdem er schon meinen gestrigen Abend und meine Nachtruhe verdarb?«
    »Wegen des Traums, meinst du«, sagte Bertha, die leicht zu besänftigen war. Sie legte den Arm um den Nacken der Cousine und küsste sie. »Und jetzt erzähl’ ihn mir. Du weißt, wie sehr mich dergleichen entzücken kann.«
    »Gut, ich will damit meine Launenhaftigkeit dir gegenüber wiedergutmachen«, sagte die andere und klatsche in die Hand der Freundin. »Nun, höre! Ich ging lange Zeit in meinem Zimmer auf und nieder; ich war erregt – niedergeschlagen –, ich weiß nicht was. Es war beinahe Mitternacht, bevor ich mich zur Ruhe begab, aber ich konnte nicht schlafen. Ich warf mich hin und her, und nach langer Zeit ließ mich die pure Erschöpfung in den Schlaf gleiten. Aber was für ein Schlaf! Eine seltsame Furcht hatte mich ergriffen. Ich sah Bilder, wie damals in kindlicher Krankheit. Ich weiß nicht, ob im Schlaf oder Halbschlaf. Dann träumte ich, aber so klar, als wäre ich hellwach. Eine Art Nebel strömte in den Raum, und heraus trat der Ritter Azzo. Er starrte einige Zeit zu mir herab, ließ sich dann auf ein Knie nieder und küsste meine Kehle. Lange ruhten seine Lippen dort, und ich spürte einen leisen Schmerz, der immer mehr zunahm, bis ich ihn nicht länger ertragen konnte. Mit all meiner Kraft stemmte ich mich gegen die Erscheinung, aber es gelang mir nur nach einem langen Kampf. Zweifellos schrie ich, denn das riss mich aus meiner Starre. Als ich wieder zu Sinnen gekommen war, fühlte ich eine abergläubische Furcht über mich kriechen – wie sehr ich mich ängstigte, kannst du dir nicht vorstellen. Ich sage dir, dass, obwohl ich wach war und die Augen offen hatte, es mir so schien, als wenn Azzo immer noch an meinem Bett stünde und dann langsam im Nebel verschwände, der sich an der Tür auflöste!«
    »Du musst heftig geträumt haben, meine arme Freundin«, begann Bertha, doch dann machte sie abrupt eine Pause. Sie blickte erstaunt auf Franziskas Hals. »Halt, was ist das?«, schrie sie. »Schau nur – wie seltsam –, da ist ein roter Streifen auf deiner Kehle!«
    Franziska erhob sich und ging zum Glas, das im Fenster stand. Sie konnte tatsächlich eine dünne rote Linie, etwa einen Zoll lang, an ihrem Hals sehen. Sie begann zu brennen, als sie diese mit ihrem Finger berührte.
    »Ich muss mich im Schlaf irgendwie selbst verletzt haben«, sagte sie nach einer Pause. »Und das wird auch zum Teil meinen Traum ausgelöst haben.«
    Die Freundinnen schwatzten noch für eine Weile über diesen einzigartigen Zufall – den Traum und den Fremden – und schließlich verwandelte Bertha alles in einen Scherz.
      
    Einige Wochen vergingen. Der Ritter musste feststellen, dass sich sein Gut in größerer Unordnung befand, als er es sich zunächst hatte vorstellen können. Statt wie geplant drei oder vier Wochen zu bleiben, wurde die Abreise in weite Ferne gerückt. Dieser Aufschub fand seine Ursache teilweise auch in der andauernden Schwäche Franziskas. War ihre jugendliche Schönheit früher wie eine Rose aufgeblüht, so wurde sie nun täglich dünner, kränklicher und kraftloser. Gleichzeitig wurde sie so bleich, dass innerhalb eines Monats sich auf den einst glühenden Wangen nicht einmal der Hauch eines Rots zu finden war. Des Ritters Sorge um sie war gewaltig, doch die besten Ratschläge, die die Menschen jener Zeit und jenes Ortes leisten konnten, blieben ohne Wirkung. Franziska beklagte sich von Zeit zu Zeit, dass der schreckliche Traum, mit dem ihre Krankheit begonnen hatte, sich wiederhole. Dann fühlte sie sich am folgenden Tag stets unbeschreiblich viel schwächer. Bertha nahm an, dass das Fieber Franziska

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