- Lasst die Toten ruhen
Ruinen der Burg auf der Linken und betrat die alte Kapelle. Im Chor sah er sich rasch, aber sorgfältig um. Eine Friedhofsruhe herrschte in dem verwüsteten Heiligtum, die nur durch das Flüstern des Windes im alten Dornenbaum, der draußen wuchs, gebrochen wurde. Nachdem Woislaw sich umgesehen hatte, fand er die Tür hinab zur Gruft. Er eilte hin und stieg herunter. Die Sonne stand so, dass ihre Strahlen durch die Risse drangen und die unterirdische Kammer so sehr erleuchteten, dass man leicht die Inschriften am Kopf und Fuße der Särge lesen konnte. Der Ritter legte zunächst das Paket, welches er zuvor unter dem Umhang getragen hatte, auf den Boden. Dann ging er von Sarg zu Sarg und blieb vor dem ältesten stehen. Er las die Inschrift sorgfältig, zog den Dolch nachdenklich aus der Scheide und versuchte den Deckel mit der Dolchspitze anzuheben. Dieses war keine schwierige Angelegenheit, da die verrosteten Nägel sich kaum im morschen Holz hielten. Darinnen sah er bloß einen Totenschädel, Reste von Kleidung und einen Haufen Asche. Er schloss ihn schnell wieder und ging zum nächsten, wobei er die Särge einer Frau und zweier Kinder ausließ. Der Inhalt dieses Sarges sah ganz ähnlich aus, nur dass der Leichnam erst dann zerfiel, als der Deckel gehoben wurde. Im dritten und vierten waren nur einige Lumpen und Knochen zu erkennen. In den folgenden halben Dutzend waren die Leichen in einem besseren Zustand: In einigen sahen die Toten wie gelbbraune Mumien aus, in anderen Särgen fanden sich Totenschädel mit Haaren, die aus den verschimmelten Resten von samtener oder seidener Kleidung grinsten. Sie alle waren jedoch von den widerlichen Anzeichen des Verfalls gekennzeichnet. Es blieb nur ein weiterer Sarg zur Inspektion. Als Woislaw ihn erreichte, las er die Inschrift. Es war dieselbe, die früher den Ritter von Fahnenberg angezogen hatte: Ezzelin von Klatka, der letzte Herr des Turmes, lag hier. Woislaw stellte fest, dass der Deckel hier schwieriger anzuheben war, und nur durch einen hohen Kraftaufwand gelang es ihm schließlich, die Nägel herauszuziehen. Er ging dabei so leise wie möglich vor, als ob er Angst davor hätte, einen Schläfer im Sarg zu wecken. Er hob den Deckel ab und warf einen Blick auf den Kadaver. Ein unwillkürliches »Ha!« entfuhr seinen Lippen, als er einen Schritt zurücktrat. Wenn er einen anderen Anblick erwartet hätte, wäre er weit mehr überwältigt worden. Im Sarg lag Azzo, wie er lebte und atmete und wie Woislaw ihn am gedeckten Tisch am Abend zuvor gesehen hatte. Sein Äußeres und seine Kleidung waren dieselben. Er sah eher wie ein Schlafender als wie ein Toter aus – es war kein Anzeichen einer Verwesung ersichtlich – es war sogar eine Spur von Rot in seinen Wangen. Nur der Umstand, dass sich seine Brust weder hob noch senkte, unterschied ihn von einem Schläfer. Für einige Augenblicke bewegte sich Woislaw nicht – er konnte nur in den Sarg starren. Dann, mit für ihn ungewöhnlich hastigen Bewegungen, ergriff er plötzlich den Deckel, der ihn aus den Händen geglitten war, legte ihn zurück auf den Sarg und trieb die Nägel wieder hinein. Sobald er seine Arbeit beendet hatte, holte er das am Eingang zurückgelassene Paket und legte es auf den Sarg. Hierauf erklomm er eilig die Stufen und verließ die Kirche und die Ruinen.
Der Tag verging. Noch vor dem Abend bat Franziska ihren Vater, dass sie am Abend mit Woislaw ausreiten möge, unter dem Vorwand, sie wolle ihm das Land zeigen. Er, erfreut über das, was er für ein Zeichen der Besserung seiner Tochter hielt, stimmte schnell zu. So bestiegen die beiden ihre Pferde und verließen, von einem Diener gefolgt, die Burg. Woislaw war ungewöhnlich still und ernst. Als Franziska ihn wegen seiner Schweigsamkeit und der geplanten sympathetischen Kur anging, antwortete er, dass das, was vor ihnen liege, keinen Anlass zum Lachen böte. Obwohl das Resultat sie ohne Zweifel kurieren würde, würde es ihr Leben für alle Zukunft verändern. In solcherart Gespräch vertieft erreichten sie den Wald und später die Eiche, an der sie ihre Pferde zurückließen. Woislaw gab Franziska seinen Arm, und so erklommen sie langsam und schweigend den Hügel. Sie hatten gerade eines der halbeingestürzten Außenwerke erreicht, von wo aus sie einen Blick auf das offene Land erhaschen konnten, als Woislaw mehr zu sich selbst als zu seiner Begleiterin sagte: »In einer Viertelstunde wird die Sonne untergehen, und in einer weiteren Stunde wird
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