Lasst eure Kinder in Ruhe
sieht man bei solchen ganz in ihr Nachdenken versunkenen Kindern plötzlich, mitten in ihrem Spiel und Handeln, ein Erschrecken. Plötzlich ist diese Fremdheit der äußeren Welt wieder da, deshalb das Erschrecken – und wo sind Mama oder Papa? Die müssen jetzt aber ganz rasch herbeigerufen werden, sonst setzt es Gekreisch!
So ist das. Vater oder Mutter oder vertraute Bindungspersonen müssen immer in irgendwie erreichbarer Nähe sein. Nein, sie sollen nicht unaufhörlich um das Kind herum sein, das wird auch langweilig, und zwar für beide. Aber wenn das Eingeschüchtert-Sein durch das Unbekannte der Welt dann wieder aufflackert, dann müssen sie schnellstens herbeigerufen werden. Wo nämlich Ängstlichkeit ist, da geht alles andere verloren, was an schönen Empfindungen und Einsichten schon erworben worden ist.
So, hin und her, voran und zurück, verläuft der Bildungsprozess
eines Kindes. Vertraut sind die Stimme von Mama und Papa, das Wiederkennen der elterlichen Wohnung in vielen Details, die Anordnungen der Möbelstücke, sogar ihre Gerüche. Dies alles schafft verlässliche Nähe, »Gewissheiten« eben. Dies alles schafft ein ursprüngliches Kindervertrauen als Basis der seelischen Entfaltung.
Vertrauen: Kinder üben sich bereitwillig darin ein. Wer schon mit wenigen Lebensmonaten erfahren hat, dass er jeden Morgen ganz zuverlässig von Mama oder der Großmutter, Papa oder dem Großvater, von Mütterlichkeit oder Väterlichkeit in seinem Bettchen und den Kuschelkissen gerufen wird, der findet auch ein ruhiges Fundament für den Tag.
Ein Kind, das viel Urvertrauen erleben durfte, unternimmt froh das abenteuerliche, manchmal befremdliche, manchmal triumphierende Entdecken der Welt. Nicht auf die korrekte Wiedergabe von Fakten kommt es dabei an, sondern ausschließlich darauf, dass sich in ihm ein Sinn für das Wesen und die Schönheit der Welt ausweitet. Damit beginnt alles.
Sind die bei Mama und Papa erworbenen Sicherheiten verlässlich und tief im Kern des kindlichen Ichs und des Erlebens verankert, dann baut sich auch das Erfassen der Dinge der Welt und der Menschen ebenso verlässlich auf. Sind diese »Gewissheiten« freilich ungewiss, brüchig, bleibt auch das Erfahren und Lernen brüchig, fragmentarisch. Ich komme ausführlich darauf zurück.
Kant scheute die großen Worte und das umfassende Denken nicht. Fröbel tat es ihm nach und begründete
dadurch eine zutiefst humane und aufgeklärte Tradition der Pädagogik der Moderne. Wir heute sollten uns davon belehren lassen. Dann stehen wir staunend und bewundernd davor, wie die kindlichen körperlichen und seelischen Entwicklungen immer wieder wie eine Einheit zusammenfließen – alles vereint sich zu einem immer klareren Weltbild in den kleinen, feinen und so gewaltigen Entwicklungsschritten eines Kindes.
Die »inneren Gewissheiten« sind, Kant folgend, frühe Lebensgewissheiten, die unmittelbar aus der Bindung an Mama und Papa hervorgehen. Sie erst schaffen den Mut und das Vertrauen eines Kindes in seine eigene Zukunft. Sie sind die Grundlage für den Glauben an das Gute, an das Moralische. Sie sind der Promotor für all das, was den Menschen ausmacht.
Es gibt gar kein sinnvolles Lernen und erst recht keine Bildung ohne »Gemütskräfte« – ein weiterer zentraler Begriff des kantschen Bildungsdenkens –, die immer ein eigenes Maß an Gewissheit haben müssen. Ein Kleinkind muss auf Schritt und Tritt Vertrautem begegnen, dem Wiederkennen von Räumen und Gesichtern, Körpern und Stimmen.
Auf solch gewisser Grundlage fasst das Kind den Mut, das Bekannte und Vertraute nun zu überschreiten, immer noch mehr wissen zu wollen, als es schon weiß, und sich größere Zusammenhänge anzueignen, obwohl sein kleiner Geist sie noch gar nicht erfassen kann. Die kindliche Neugier ist mutig, der Drang der Kinder, die Welt zu erkunden, ist nahezu unwiderstehlich. Und so baut sich ein Abenteuer und Glück suchendes,
Schönheit und Form suchendes Wahrnehmen in allen Kindern auf.
Die Welt ist verstehbar, sie kann hell und klar sein, wenn ein vertrauensvoller kindlicher Sinn sich ihr zuwendet. Die gesamte klassische Philosophie der Aufklärung ist darin weit und großartig und hat wundervolle Sätze dafür gefunden. Nur unsere Pädagogen und viele Wissenschaftler bleiben dem reichen Fundus des Lebens gegenüber dumpf und zahlenverstrickt.
Die ganze Geistes- und Gedankengeschichte der Menschheit ist in dieser Reihenfolge aufgebaut, erst die Bindung (dazu im
Weitere Kostenlose Bücher