Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
seinem ersten Abend nicht gern allein lassen.«
»Aber natürlich nicht. Du bringst deinen Neffen heute Abend mit.«
»Er ist neunzehn.«
»Extraordinaire. Ich glaube, ich war auch mal so alt. Muss in den Sechzigern gewesen sein. Ich musste durch die Sechziger durch, um in die Siebziger zu kommen. Soweit ich noch weiß, habe ich LSD genommen und eine Menge übler Klamotten getragen. Ich erwarte dich und diesen jungen Mann um halb acht.«
Ich stimmte zu und legte auf.
Gut. Jetzt musste ich nur noch meinen Neffen dazu überreden, seinen Samstagabend bei Lammkoteletts und Schnecken mit einem Haufen quasselnder Senioren zu verbringen.
Wie sich zeigte, war das kein Problem. Gegen viertel nach drei tauchte Kit wieder auf, mit verstrubbelten Haaren und einem Bärenhunger. Er aß das Hühnchen vom Vortag auf und fragte mich, ob er seine Wäsche waschen könne. Als ich das Abendessen erwähnte, stimmte er bereitwillig zu.
Ich notierte mir, Harry anzurufen. Ausgehend von den Teenagerjahren meiner Tochter Katy, hätte ich von Kit alles andere als höfliche Gesellschaft erwartet. Aber Kit war ein Fremder in der Stadt und wusste vielleicht einfach nicht, wo er »herumhängen« konnte.
In den nächsten paar Stunden beendete ich ein Empfehlungsschreiben für einen Studenten, putzte mein Schlafzimmer und erklärte meinem Neffen das Verhältnis zwischen Waschmitteln und Gewebearten. Gegen sechs fuhr ich zu Le Faubourg, um eine Flasche Wein und einen kleinen Blumenstrauß zu kaufen.
Isabelle wohnt auf der Île-de-Sœurs, einem schmalen Landstreifen im St. Lawrence, der über Generationen hinweg den Zisterzienser-Nonnen gehörte, seit einiger Zeit aber von Yuppies kolonisiert wird. Entstanden ist ein typisches »Mischnutzungs«-Viertel, in dem Eigentumswohnanlagen, Reihenhäuser und frei stehende Anwesen sowie hoch aufragende Wohnblocks mit Tennisclubs, Einkaufsstraßen, Radwegen und gepflegten Grünflächen eine harmonische Einheit bilden. Die Insel ist mit dem Südufer durch die Champlain Bridge verbunden und mit Montreal durch zwei kleinere Brücken.
Isabelles Eigentumswohnung befindet sich im obersten Stock eines Doppelblocks an der nördlichsten Spitze der Insel. Nach dem Scheitern ihrer dritten Ehe hatte sie die Scheidungspapiere unterschrieben und ihr Haus mit der gesamten Einrichtung verkauft, um auf der Île-des-Sœurs einen völligen Neuanfang zu wagen. Die einzige Habe, die sie mitgebracht hatte, waren ihre hoch geschätzten CDs und ihre Fotoalben.
Weil ihre Einrichtung zu ihrer neuen »Was soll’s«-Lebenshaltung passen sollte, hatte sie sich für ein Safari-Thema entschieden. Ihr Innenarchitekt hatte Naturfaserstoffe, die aussahen, als hätten sie das Gütesiegel des World Wildlife Fund, mit künstlichen Leoparden- und Tigerfellen gemischt. An den Wänden hingen Tierdrucke, und auf dem Couchtisch, einer Glasplatte auf Füßen, die an die eines Elefanten erinnerten, stand eine Sammlung afrikanischer Schnitzereien. Das Doppelbett in ihrem Schlafzimmer war mit einem Baldachin aus Moskitonetz verhüllt.
Kit war begeistert, oder zumindest tat er so. Während Isabelle uns durch ihre Wohnung führte, stellte er Frage um Frage nach der Herkunft jedes Stücks. Ich war mir nicht sicher, wie echt sein Interesse war, freute mich aber über seine höfliche Aufgeschlossenheit.
Was mich faszinierte, war nicht die Einrichtung, sondern der Ausblick. Ein Gast wurde noch erwartet, und als Kit und ich unsere Drinks erhalten und die anderen Gäste kennen gelernt hatten, trat ich hinaus auf den Balkon, um diesen Blick zu genießen.
Es regnete leicht, und am anderen Ufer funkelte die Skyline in jeder denkbaren Farbe. Der Berg thronte massiv und schwarz über den Häusern von Centre-ville. Hoch oben an seiner Flanke konnte ich die Lichter des Kreuzes erkennen.
Das Geräusch der Türglocke war zu hören, und dann rief Isabelle meinen Namen. Ich sah mich noch einmal um und ging hinein.
Der letzte Gast war angekommen und gab Isabelle eben seinen Trenchcoat. Als ich sein Gesicht sah, blieb mir vor Überraschung der Mund offen stehen.
14
»Vous!«
Es war nicht gerade meine gewandteste Gesprächseröffnung. Ich warf Isabelle einen Blick zu, der »Warte bis später« heißen sollte, doch sie ignorierte ihn.
» Oui . Bist du überrascht, Tempe?«, fragte sie mit strahlendem Lächeln. »Ich habe doch gesagt, dass ihr euch schon mal getroffen habt. Jetzt will ich euch einander offiziell vorstellen.«
Der Journalist streckte die
Weitere Kostenlose Bücher