Last days on Earth: Thriller (German Edition)
das Zimmer betrat, verschwand der Fremde gerade im Schlafzimmer. Raoul lief schnell und lautlos hinter ihm her. Die kleine Stehlampe neben der Tür brannte noch, und in ihrem Licht sah er, wie der Eindringling seine Jacke auszog und aufs Bett warf. Das warme Licht der Lampe schimmerte auf blondem Haar und beleuchtete ein beinahe durchsichtig blasses Gesicht mit spröden Linien, einem zornigen Mund und müden grauen Augen.
»Karla!«, sagte Raoul verblüfft. »Wie …«
Sie fuhr herum, fauchte: »Du hast wieder ein solches Chaos im Arbeitszimmer gemacht, es ist zum Kotzen!«, und war mit zwei langen Schritten im Badezimmer verschwunden.
Raoul schüttelte sich kurz wie eine Katze, die einen Wassertropfen abbekommen hat, und ging hinter ihr her. »Wo kommst du …?«
Seine Frage wurde von einer Hand unterbrochen, die seine Schulter ergriff und ihn heranzog, einer zweiten, die sein Kinn packte, und schließlich endgültig von einem Mund erstickt, der seine Lippen mit einem energischen, wütenden Kuss schloss. Raoul wollte zurückzucken, aber sein Verstand wurde von seinem Körper überstimmt, der erstaunlich gelassen und routiniert auf das seltsame Ereignis reagierte. Seine Hände machten sich selbstständig auf den Weg und legten sich um ihre Hüften. Während sein Verstand Salti schlug, erwiderten seine Lippen den Kuss, als hätten sie das schon tausendmal getan.
»Verdammt«, murmelte er in den Kuss hinein. »Wie lange?«
Sie ließ ihn los, schob ihn von sich fort, musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Der harte, angespannte Ausdruck machte einer seltsamen Mischung aus Erleichterung und Verlegenheit Platz. »Raoul?«, fragte sie. »Hat er dich wirklich endlich …?« Sie sprach nicht weiter, denn anscheinend entdeckte sie etwas in seiner Erscheinung, das ihre Frage beantwortete. Sie stieß einen Laut aus, der zwischen Stöhnen und Lachen lag und zog Raoul in eine feste Umarmung. »Er hat dich endlich freigelassen«, raunte ihre Stimme in sein Ohr. Sie roch nach Kaffee und Kräutershampoo, und ihr kühler, kantiger Körper lag vertraut und fremd zugleich in seinen Armen. »Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet. Raoul, er ist so ein Scheißkerl.«
»Du hast mit Brad geschlafen«, sagte er. In seinem Kopf drehte sich alles. »Wie konntest du nur … Wie … wie lange?«
Sie entließ ihn aus der Umarmung und wischte sich kurz und ärgerlich über die Augen. »Vier Monate.«
Raoul ließ sich auf die Badewannenkante sinken. »Vier …«
»Und zwei Wochen.« Karla hockte sich vor ihn und nahm seine Hand. »Ich habe dafür gesorgt, dass er dich nicht vollkommen runterarbeitet. Er hat regelmäßig gegessen, sich gewaschen, und ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn vom Saufen abzuhalten.« Sie verzog das Gesicht. »Was er außer Alkohol alles so zu sich nimmt, ist beinahe noch schlimmer. Raoul, dein Daimon ist ein Breitband-Junkie.«
»Das sind sie alle«, sagte er automatisch. »Wir haben Sommer.« Er versuchte, seinen Verstand davon abzuhalten, zu kreischen und gegen Wände zu laufen. Und dann begann er zu zittern. »Scheißangst«, keuchte er, bevor seine Muskeln sich verkrampften und die Zähne sich so fest aufeinanderpressten, dass es schmerzte. Sein Blickfeld verengte sich, bis er wie durch einen Tunnelausgang nur noch Karlas besorgtes Gesicht sah. »Klapp mir nicht zusammen«, hörte er sie sagen.
Sein Herz raste. Eine solche Panikattacke hatte er schon einmal erlebt, aber damals war Tora an seiner Seite gewesen und hatte ihn mit ruhiger Stimme hindurchgeleitet. Es hatte paradoxerweise geholfen, dass sie dabei eine Waffe auf ihn gerichtet hielt, deren Mündung genau auf seine Stirn zielte.
Karla verschwand, er hörte durch das laute Summen in seinen Ohren Wasser rauschen. Dann schlug ihm ein eiskalter, nasser Lappen ins Genick. Er keuchte, kippte nach vorne. Arme fingen ihn auf, und er fand sich an Karlas Brust gelehnt auf dem Boden wieder. Das Licht kehrte zurück, das Zittern ließ nach. »Sommer«, ächzte er. »Steht die Welt noch?«
Karlas Arme griffen fester zu. Er spürte ihren Herzschlag, ihren Atem. Ihre Hände waren kühl. »Sie steht noch«, erwiderte sie. »Aber alles wird schlimmer. Brad hat es eingrenzen können. Wir glauben zu wissen, was dahintersteckt.«
Raoul fuhr mit den Händen über sein Gesicht und seinen Kopf. »Ich muss den Anschluss wiederfinden.« Er drehte sich zu ihr um. Sie erwiderte seinen Blick mit einem Ausdruck, den er nicht zu deuten wusste. Blass war sie,
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