Last days on Earth: Thriller (German Edition)
sah, dass seine Finger zitterten. Hatte er Angst? Das war doch lächerlich!
»Ja, ich habe Angst«, flüsterte er und starrte die Flasche an. Er hatte noch nicht so viel getrunken. Er würde ein Taxi nehmen. Es war ohnehin noch zu früh, um im Hotchpotch aufzukreuzen. Das Glas klirrte, und der Wodka gluckerte hinein. Hast du gehört, Brad? Ich habe eine Scheißangst!
Der Daimon schwieg.
»… eine Scheißangst. Hast du gehört, Brad?« Raoul kniete auf dem Boden seines Badezimmers und hörte das Echo seiner eigenen Stimme. Er fühlte sich zittrig und desorientiert. Was hatte er gerade tun wollen? Anrufen. Nein, fortgehen. Er wollte in diesen Nichtmenschen-Schuppen in der Altstadt.
Raoul kämpfte seine Übelkeit nieder und rekapitulierte die letzten Stunden. Karla saß in einer Arrestzelle der MID. Er hatte Faustina angerufen und bei Tora-san um Hilfe gebeten, und dann hatte er Quass in eins dieser komplizierten Schuld-Gegenschuld-Verhältnisse gezerrt, wie sie nur ein Drachengehirn ersinnen konnte. Also hatte er alles in Bewegung gesetzt, was in Bewegung zu setzen war.
Er stöhnte und zog sich am Waschbecken in die Höhe. Der Wodka war ein Fehler gewesen. Er drehte den Wasserhahn auf und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Mit der Routine langjähriger Übung band er blind seine Haare zum Zopf und fuhr sich prüfend mit den Fingerspitzen über die Wangen und den Kinnbart.
Raoul öffnete die Badezimmertür und erkannte erleichtert, dass es immer noch dunkel war. Das Schlafzimmer lag im Dämmerlicht, aber er konnte sehen, dass überall Sachen verstreut lagen. Brad hatte Raouls kurze Abwesenheit offensichtlich genutzt, um das zu tun, was er am besten beherrschte: Durcheinander erzeugen. Daimonen waren entropische Wesen, das Chaos war ihr Lebensraum, und sie fühlten sich am wohlsten bei jeder Form von Auflösung und Unordnung.
Durch das halb geöffnete Fenster wehte für diese Jahreszeit erstaunlich schwülwarme Luft herein. In den letzten Stunden schien sich ein Gewitter zusammengebraut zu haben. Raoul ließ mit einer Handbewegung die kleine Stehlampe neben der Tür aufleuchten, um nicht über eine von Brads Hinterlassenschaften zu stolpern, und öffnete den Schrank. Er nahm eine Jeans vom Bügel. Zu aufgetakelt sollte man im Hotchpotch lieber nicht erscheinen, wenn man nicht den ganzen Abend auf seine Brieftasche aufpassen wollte.
Raoul bückte sich, um zum Outfit passende Schuhe aus der Schublade zu holen, und starrte verblüfft ein Paar kleine Turnschuhe an, die neben seinen Sneakers standen. Er richtete sich auf und musterte den Schrankinhalt. Das war nicht seine Hose. Dort lagen ordentlich zusammengelegt zwei T-Shirts und ein Sweatshirt, die er definitiv nicht kannte. Und in dem Fach darunter konnte er Wäsche erkennen, die eindeutig einem weiblichen Wesen gehörte.
Wann hatte Brad dieses Zeug hier versteckt? Und wem seiner Teilzeit-Amouren gehörte es? Der kleinen Rothaarigen, die immer ihre Schminkutensilien über das ganze Bad verteilte?
»Brad?«
Der Daimon gab keine Antwort. Wahrscheinlich streifte er durch den Æther und tankte Informationen. Raoul würde später ein ernstes Wort mit ihm reden. Die Kleider mussten verschwinden. Dafür stand schließlich der Schrank im Ankleidezimmer, in dem Brad Kleider und Wäsche für seine Freundinnen verwahrte.
Raoul zog sich an, schnürte seine Sneakers und blieb dann einen Moment lang auf der Bettkante sitzen. »Du wirst alt, Junge«, sagte er halblaut. »Ein paar Gläser Wodka, und du fühlst dich, als hätte dich jemand drei Wochen lang als Fußabtreter benutzt.«
Mit einem resignierten Schnaufen stand er auf und öffnete die Schlafzimmertür. Er griff nach seinem Stab, der im Papierkorb steckte (wie betrunken war er eigentlich? Er fühlte sich verkatert, aber nicht wirklich alkoholisiert) und nahm seine Lederjacke vom Haken neben der Eingangstür.
Als Raoul die Hand nach der Türklinke ausstreckte, hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde und das Schloss aufschnappte. Er sprang zurück und drückte sich hinter der Tür an die Wand.
Der Eintretende warf seinen Schlüsselbund auf die Ablage und ging ins Wohnzimmer. Raoul konnte kurz eine schlanke, hochgewachsene Silhouette erkennen, die einer großen Frau zu gehören schien – oder einem jungen Mann mit nicht allzu breiten Schultern.
Dann war der Eindringling im Arbeitszimmer und hantierte dort herum. Raoul packte seinen Stab fester und schlich hinter dem Fremden her.
Als er
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