Last days on Earth
denn man las ihr jeden Wunsch von den
Augen ab.
Als Kit ihr nach zwei Wochen erklärte, sein Urlaub sei vorüber und
er müsse wieder abreisen, zögerte sie keine Sekunde.
Und hier war sie nun, die erste Euphorie war verklungen, sie fragte
sich wieder, wer sie eigentlich war und was sie vom Leben erwartete â und die
Antwort lautete in letzter Zeit immer häufiger: Pack deine Koffer und lauf
davon.
»Ich muss noch unsere Niederlassung in Taipeh besuchen«, hörte
sie Kit sagen. »Danach können wir nach Hause zurück. Sobald deine Umwandlung
stabil ist, wird Perfido mich sicherlich wieder losschicken, aber er hat mir
zugesagt, dass ich diesen Job nicht mehr lange machen muss. Dann sucht er uns
etwas Angemessenes. Würdest du gerne mit mir ein Hotel führen?«
Karla setzte sich auf und rieb sich über die Arme. Trotz der Schwüle
fröstelte sie. »Ja, das klingt nett.« Sie stand auf und suchte nach ihrer Hose.
»Ich gehe kurz ins Bistro. Soll ich dir etwas mitbringen?«
Kit nahm seine Zeitung auf. »Danke«, sagte er und lächelte ihr zu.
»Lass dir Zeit. Ich dachte, wir gehen nach Mitternacht noch ein wenig aus?«
Sie ging durch den teppichbelegten Flur und fuhr in einem der
spiegelglänzenden Aufzüge nach unten. Im Bistro saà die übliche Mischung aus
Geschäftsleuten und Touristen, es war laut, und die Klimaanlage arbeitete auf
Hochtouren. Karla trank einen Espresso an der Theke und flüchtete.
Im Foyer sah sie sich die Schaukästen mit Handtaschen, Kosmetika und
Schmuck an, nickte der jungen Frau am Empfang zu, dann stieg sie wieder in den
Aufzug.
Als sie durch den Gang lief, klingelte ihr Telefon. Sie erschrak. Am
Anfang hatte Raoul noch ein paarmal angerufen, und sie hatte ihn immer kurz
abgefertigt. Danach war das Telefon stumm geblieben. Ihrer Schwester schickte
sie gelegentlich eine SMS , aber Helene und sie
waren beide nicht der Typ, der sich ständig versichern musste, dass die andere
noch lebte.
Karla lieà sich in den Sessel einer Sitzgruppe fallen, die vor einem
der bodentiefen Fenster aufgestellt war, und nahm das Gespräch an. Es war
Raoul, sie hatte die Nummer erkannt.
Dezember, dachte sie beiläufig. Wir müssen inzwischen Dezember
haben. Und die Welt steht noch immer â¦
Sie meldete sich und lauschte dem Rauschen des Ãthers. Keine
Antwort, wahrscheinlich war die Verbindung schlecht. »Hallo?«, rief sie laut.
»Raoul?«
Rauschen. Dann eine ferne, leise Stimme: »Hilfe!«
Karla glaubte, sich verhört zu haben. Sie sagte laut: »Raoul? Was
ist los?«
Wieder nur das ferne Ãtherrauschen. Karla meinte, Atem zu hören, der
irgendwie gehetzt klang, aber wahrscheinlich war auch das ein Störgeräusch.
Plötzlich hörte sie Raouls Stimme klar und deutlich: »Karla, hilf
mir! Sie sind hinter mir her. Sie wollen mich töten.«
Karla umklammerte das Telefon so fest, dass das Gehäuse knackte. »Wo
bist du?«
Das Rauschen nahm wieder zu. Sie hörte ihn atmen. Dann wieder seine
Stimme, überlagert von Störgeräuschen: »Ich habe mich eingeschlossen. Aber sie
werden mich finden. Ich habe Angst. Bitte, komm zu mir!«
»Raoul, hör mir zu«, rief Karla. »Ich sitze auf der anderen Seite
der Welt. Ich nehme das nächste Flugzeug. Aber bis dahin musst du alleine auf
dich aufpassen.« Sie zwang sich, den Griff um das Telefon zu lockern. »Wer ist
hinter dir her?«
Ein Knacken. Er antwortete, aber sie verstand ihn nicht. »Raoul«,
rief sie, »was ist mit Tora? Kann sie dir �«
»â¦Â nicht mit mir«, hörte sie seine verzerrte Stimme.
»â¦Â versucht ⦠töten. Quass auch ⦠bin untergetaucht,
aber â¦Â« Die Leitung wurde immer schlechter, er war kaum noch zu hören.
»Leg auf, ich rufe dich an«, schrie Karla.
»Hilf mir!«, sagte er noch einmal laut und deutlich, dann war die
Leitung tot.
Karla wählte mit fliegenden Fingern seine Nummer, aber niemand nahm
ab. Sie versuchte es weiter, während sie zu ihrem Zimmer rannte.
»Buch mir einen Flug nach Hause«, rief sie Kit zu, der sie erstaunt
ansah. Sie zog ihren Koffer aus dem Fach und öffnete ihn. Kit schlüpfte in
seine Jacke und ging hinaus. Wahrscheinlich wollte er an der Rezeption
telefonieren, damit er sie nicht störte.
Raoul ging weiter nicht ans Telefon. Karla fluchte und suchte nach
Toras
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