Last days on Earth
erschöpft und zerschlagen. Ein Jetlag der ganz
besonderen Güteklasse, dachte sie.
Das Taxi wartete auf der anderen StraÃenseite. Seine Scheinwerfer
beleuchteten die Schneeflocken, die vom Himmel taumelten. Der Wind hatte sich
gelegt. In der Ferne heulte eine Sirene, und Brandgeruch lag in der Luft. Karla
zog die dicke Jacke enger, sie fror in der ungewohnten Kälte und vor Müdigkeit.
Vor dem Bankgebäude, auf dem Quass von Deyens Penthouse thronte,
stand sie eine Weile im Schneetreiben. Sie betrachtete die groÃen Fenster der
Bank, die mit Brettern geschützt waren. Auf dem Weg hierher hatte sie eine
ganze Reihe solcher provisorisch vernagelter Schaufenster gesehen. Der
Taxifahrer hatte sich entschuldigt, weil er nicht den kürzesten Weg nehmen
konnte. Eine der HauptstraÃen war gesperrt, weil es am Tag zuvor in der
Innenstadt wieder einmal zu Krawallen gekommen war, mit brennenden Autos und
Gebäuden, Plünderungen und Toten. Dies ist der Weltuntergang, dachte Karla.
Dann griff sie nach ihrem Telefon und wählte. »Horace«, sagte sie,
als der Butler sich meldete, »ich stehe unten. Lassen Sie mich ein?« Sie folgte
den Instruktionen des Butlers, die sie um das Gebäude herum in eine
SeitenstraÃe führten und dort zu einem unauffälligen Eingang. Als sie dort
anlangte, surrte schon der Türöffner.
In der groÃen Empfangsdiele wartete der Butler auf sie. »Frau van
Zomeren«, sagte er, »ich bin überrascht.«
»Horace, hören Sie auf, Konversation zu betreiben. Erzählen Sie mir,
was Ihrem Herrn fehlt.«
Der Butler zögerte einen Moment. Dann verzog er seine
dienstlich-ausdruckslose Miene zu einem Lächeln, das ihn um Jahre jünger wirken
lieÃ. »Darf ich Sie in die Küche bitten?«, fragte er. »Dort ist es warm, und
wir sind ungestört.«
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12. 19. 19. 17. 17.
Horace berichtete, was er wusste, und das war so gut wie
nichts. Etwa vor vier Wochen hatte Quass von Deyen begonnen, sich in seiner
Bibliothek einzuschlieÃen. Er weigerte sich, jemanden vorzulassen â auch Raoul
nicht â, und lieà deutliche Anzeichen von Verfolgungswahn erkennen.
»Er vertraut nur noch mir«, sagte Horace und rührte mit sorgenvoller
Miene Zucker in seinen Tee. »Niemand sonst darf zu ihm. Er will nicht ans
Telefon gehen, weil er befürchtet, dass jemand aus dem Ãther sein Gehirn mit
Strahlung verseuchen könnte. Ich habe zwei Mitglieder seiner Familie angerufen,
aber auch dort ist niemand bereit, ans Telefon zu gehen. Deren Dienerschaft ist
ebenso ratlos wie ich.«
Karla benötigte einige Sekunden, bis sie begriff, was Horace ihr da
erzählte. »Sie wollen damit sagen, dass auch andere Drachen betroffen sind?«
Er hob mit einer ratlosen Geste die Schultern. »Ich habe keine
Ahnung, Frau van Zomeren. Herr von Deyen ist die stabilste Persönlichkeit, die
mir in meinem Leben je begegnet ist. Ich verstehe nicht, was ihn so verändert
hat.«
»Gift? Ein Fluch?«
»Gift halte ich für ausgeschlossen.« Horace wirkte einen Augenblick
lang gekränkt, dann schüttelte er mit einem entschuldigenden Lächeln den Kopf.
»Alles, was mein Herr zu sich nimmt, geht vorher durch meine Hände.«
Karla nickte nachdenklich. »Dann bliebe immer noch die Frage, ob ihn â und die anderen Drachen â jemand verflucht hat.«
»Auch das halte ich für extrem unwahrscheinlich.« Horace zögerte.
Sein sorgenfaltiges Gesicht unter den kurzen grauen Haaren spiegelte den Kampf,
den er mit sich ausfocht. Dann stieà er resigniert Luft durch die Nase und zog
einen seiner blendend weiÃen Handschuhe aus. Karla, die ihn noch nie mit
nackten Händen gesehen hatte, starrte sie fasziniert an. Es war eine ganz
gewöhnliche, sehr gepflegte Hand mit kurzen Nägeln und einer glatten Haut.
Horace hielt ihr die Hand hin. Karla, die nicht recht wusste, was er
von ihr wollte, berührte sie mit den Fingerspitzen und saà dann wie erstarrt
da. Kraftwellen. Magier und Hexen gaben sich nicht gerne die Hand. Jeder, der
über magische Kräfte verfügte, konnte bei einem solchen Kontakt allerlei an
Information über sein Gegenüber sammeln â seine Stärke, sein Potenzial, seine
Ausrichtung â¦
»Sie sind ein Versatiler«, sagte Karla.
Horace zog seine Hand weg und schlüpfte wieder in den Handschuh, den
er sorgfältig glättete.
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