Last days on Earth
schauderte. »Ja«, erwiderte sie knapp.
»Dürfen wir uns den Ort des Geschehens ansehen?«, fragte Raoul.
Die Kuratorin zögerte. »Das ist nicht â¦Â«, begann sie. »Bei
allem Respekt für Ihre Arbeit, Herr Winter, das kann ich jetzt nicht â¦
Nein, das geht ganz und gar nicht. Machen Sie doch bitte für nächste Woche
einen Termin mit dem Sekretariat aus.«
Raoul beugte sich ein wenig vor und tippte leicht mit dem
Zeigefinger auf den Tisch. Der Blick der Kuratorin folgte ihm verwirrt.
Karla, die dem Schauspiel gespannt zusah, unterdrückte einen Laut
der Verblüffung. Raoul legte seine Hand neben die der gebannt dasitzenden Frau,
lieà seine Finger sacht über ihren Handrücken tanzen, umschloss ihr Handgelenk
und beugte sich noch ein wenig weiter vor, bis seine Wange fast an ihrer lag.
Er flüsterte etwas in ihr Ohr, und sie errötete wie ein Schulmädchen. Dann
kicherte sie und gab ihm einen nicht anders als zärtlich zu nennenden Klaps.
»Also gut«, sagte sie mit hoher Stimme. »Sie haben mich überredet.« Sie erhob
sich ein wenig unsicher. Raoul bot ihr seinen Arm, den sie mit einem erneuten
Kichern annahm.
Karla stand auf, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und
verschluckte sich beinahe. Raoul führte die Kuratorin zur Tür und warf Karla
einen nicht anders als frech zu nennenden Blick zu. Sein Grinsen entblöÃte
einige Zähne mehr als schicklich war, und seine schillernden Augen warfen das
Licht zurück wie Katzenaugen. Er bewegte sich sogar anders, geschmeidiger,
lässiger.
»Verdammt, Brad«, sagte Karla leise und griff hastig nach ihrem
Rucksack. »Das darf doch nicht wahr sein!«
Sie ging mit raschen, wütenden Schritten hinter den beiden anderen
her. Wie konnte Raoul das zulassen? Sein »Mitarbeiter« griff auf unzulässige
Art und Weise in die Ermittlungen ein und beeinflusste die Zeugen. Karla freute
sich auf die Gelegenheit, ihrem doppelgesichtigen Partner gründlich die Leviten
zu lesen.
Der Raum, in dem die Sammlung untergebracht war, war nicht
sonderlich groà und fensterlos. Dr. Gernhardt erklärte, wo der Wachmann gelegen
hatte, deutete die GröÃe der Blutlache an und bat dann, sich ein wenig an die
frische Luft entfernen zu dürfen, ihr sei übel.
Raoul â nein, Brad â begleitete sie hinaus, und in der kurzen Zeit,
die sie allein im Raum war, tastete Karla mit ihrem siebten und achten Sinn die
Energielinien ab, die ihn wie ein Spinnennetz durchzogen. Glitzernde blaue und
grüne Fäden zogen sich vom Fundort der Leiche zu einem Tisch in der Nähe und
von dort zu einer leeren Glasvitrine, einem geschnitzten Lesepult und weiter zu
zwei entgegengesetzt stehenden Bücherregalen.
Karla schloss die Augen und nahm den neunten Sinn dazu, nachdem sie
ihre eigene und die Energiesignatur ihres Partners routinemäÃig ausgeblendet
hatte. Sie spürte die Echos der Schwingungen, die der Tod des Werwolfs im
Gewebe der Realität verursacht hatte. Da war ein Nachhall von Schmerz und
Angst, da war der Tod wie eine schwere, dunkle Wolke. Und sonst war dort â
nichts.
Das konnte nicht sein. Karla öffnete die Kanäle der Wahrnehmung noch
etwas weiter und dankte dem Schicksal dafür, dass sie ihr Depot an
Sheldrake-Energie so groÃzügig aufgestockt hatte, denn die lief nun wie Wasser
aus einem Sieb aus ihr heraus. Zehnter Sinn. Ebene fünf der Wahrnehmung. Die
Umrisse der Gegenstände im Raum verblassten, nur noch das Netz aus
Energielinien und das langsame Pulsieren von Feldern blieben sichtbar. Karla
musste sich daran erinnern, dass ihre Lungen weiteratmen, ihr Herz
weiterschlagen musste. Das war kein Ort, an dem sie sich lange aufhalten
durfte, aber es war auch nicht nötig. Da war der Wachmann, da war sein
gewaltsamer Tod unter Schmerzen und Angst, dort waren die Energielinien der
gestohlenen Bücher und die schwachen Felder der anderen Gegenstände, sie konnte
die verwischten Signaturen der Kuratorin und des Personals erkennen â aber
nichts sonst.
Karla lieà sich auf die unterste Wahrnehmungsebene zurückfallen und
wartete mit geschlossenen Augen, bis ihre Atmung sich wieder normalisiert
hatte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie in Raouls Gesicht. Er lehnte mit
verschränkten Armen an der Tür.
»Raoul?«, fragte Karla. »Oder Brad?«
»Raoul«, erwiderte er mit einem schiefen Lächeln.
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