Last days on Earth
seinen Zügen begann einer aufflammenden Wut
zu weichen â Karla sah es mit Erleichterung. Sie hatte schon zu fürchten
begonnen, dass die lange Phase der Deprivation Raouls Verstand und vor allem
seiner Persönlichkeit ernsthaften Schaden zugefügt haben könnte. Aber der Zorn
zeigte ihr, dass die Betäubung wich und nun der Schmerz sein heilsames Werk
tat.
»Wie hat er es vor dir gerechtfertigt?«, fragte Raoul.
»Ich war selbst nicht vollkommen bei mir«, erwiderte sie. »Die
letzten Monate waren â ermüdend.« Das war nicht das richtige Wort, aber es war
ihr zu anstrengend, danach zu suchen. »Er hat behauptet, dass es ganz normal
sei, wenn du eine längere Auszeit nimmst. Und er sagte, dass unsere
Nachforschungen seine ständige Anwesenheit erfordern.«
»Was für ein verlogenes â¦Â« Raoul fehlten die Worte.
Karla sagte hastig: »Das war mir klar. Ich habe Tora-san um Rat gefragt.
Sie hat mir davon abgeraten, irgendwelche gewaltsamen MaÃnahmen zu ergreifen,
weil sie befürchtete, dass jeder Versuch, Brad die Kontrolle zu entreiÃen, dir
irreparablen Schaden zufügen würde.«
Raoul nickte mit angespannter Miene. »Das ist richtig«, sagte er.
»Ein Exorzismus würde meinen Geist in Stücke reiÃen.«
Karla legte ihre Hand auf seine geballte Faust. »Es gibt wirklich
keine Methode, einen Daimon endgültig auszutreiben?«
Er zog seine Hand weg und stand auf. »Keine, die nicht den Wirt
töten würde«, sagte er kurz. »Oder ins Irrenhaus bringen. Wenn du einen Daimon
für immer zurück in den Ãther schicken willst, musst du seinen Wirt erschieÃen.
Anders geht es nicht. Ich wurde schlieÃlich nicht gegen meinen Willen
besessen.«
Karla lieà das Thema auf sich beruhen. Sie schob die Notizen in
ihren Rucksack und begleitete Raoul zur Tür.
»Es ist wirklich Sommer?« Er griff unschlüssig nach seiner
Lederjacke.
»August«, bestätigte Karla. Sie hätte ihre kurze Stoffjacke auch
lieber in ihren Rucksack gestopft. Aber sie war es leid, für einen Junkie
gehalten zu werden. Der angewidert-mitleidige Blick, der ihr vor ein paar
Wochen von einer ehemaligen Kollegin bei einer Begegnung in der Altstadt
zuteilgeworden war, hatte ihr gereicht.
Nevio empfing Raoul wie einen verloren geglaubten Sohn. Er
komplimentierte sie an den besten Tisch und rannte dann in die Küche, um wenig
später eigenhändig die Vorspeise aufzutragen. In seinem Kielwasser segelte
Faustina heran, die Raoul in eine liebevolle Umarmung zog.
Als Faustina wieder in die Küche zurückgekehrt war, stürzte Raoul
sich wie ein Verhungernder auf die Antipasti. Karla stocherte ein wenig lustlos
auf ihrem Teller herum. Ihr Appetit war ihr in den letzten Monaten gründlich
abhandengekommen. Sie musste sich gelegentlich daran erinnern, dass ein Mensch
Nahrung brauchte. Sie spürte Raouls Blick auf sich und hob den Kopf, um ihn
anzulächeln. Es war schön, dass er wieder oben war. Sie hatte ihn vermisst.
»Was habt ihr herausgefunden?«, fragte er und legte sein Besteck auf
den Teller. Ganz offensichtlich wollte er mit einem Thema beginnen, das ihn
nicht schmerzte.
Karla holte die Notizen hervor. »Das hier hat uns fast drei Monate
gekostet«, sagte sie.
Er überflog die Liste, die Daten, die Namen und runzelte die Stirn.
»Das sind Flugzeugabstürze, Banküberfälle mit Geiselnahmen, Versicherungsfälle,
die aus Naturkatastrophen resultieren, und mehrere Ritualmorde.«
»Ja, und in der zweiten Tabelle sind die Geschädigten aufgelistet.
Siehst du, was diese Fälle verbindet?« Sie betrachtete sein Gesicht, während er
las, verglich, nachdachte. Sie hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, dass Brad
sich besser um ihren gemeinsamen Körper kümmerte, aber Daimonen gehörten
einfach nicht zu den kooperativsten Lebensformen dieser Welt. Raoul sah
schlecht aus. Er hatte zu wenig Schlaf, zu wenig Essen, zu wenig Ruhe bekommen,
dafür aber zu viel Alkohol, zu viele Drogen, zu viel Adrenalin.
Als sie aus der Villa geflüchtet und in ihrer Not zu Raoul gegangen
war, hatte Brad schon dafür gesorgt gehabt, dass die Wohnung einer Müllkippe
glich und ihr Bewohner einem heruntergekommenen Stadtstreicher. Wenn sie nur
selbst nicht so damit beschäftigt gewesen wäre zu überleben â¦
Nevio kam mit dem Hauptgang. Er klopfte Raoul mehrmals
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