Last Exit
Männerstimme mit Südstaatenakzent meldete: »Haben Sie ihn wieder verloren, Raleigh?«
»Nein, er hat mich nicht verloren«, antwortete Milo. »Er ist hier.«
»Mist«, krächzte Cy.
»Hören Sie, ich hab Raleigh das Bein gebrochen, aber er sagt mir nicht, was ich wissen muss. Vielleicht sind Sie so freundlich. Sonst bringe ich ihn um.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Wer hat Ihnen den Auftrag erteilt, mich zu überwachen ?«
»Das kann ich Ihnen nicht verraten.«
Milo hob die Stange auf und knallte sie gegen Raleighs gebrochenes Bein. Als die Schreie allmählich verhallten, ging Milo wieder ans Telefon. »Reden Sie, Cy, sonst ist es aus mit Raleigh. Nächste Woche werden die ersten Leute aus Ihrer Familie verschwinden. Und am Ende der Woche statte ich Ihnen persönlich einen Besuch ab.«
Der Chef gab ein Ächzen von sich. »Finden Sie das nicht ein bisschen übertrieben?«
»Ich bin gerade ziemlich schlecht gelaunt.«
»Scheiße«, meinte Cy.
»Hívom a rendőrséget!« Erneut die Stimme von oben.
Eine halbe Stunde später war Milo wieder in Buda und fuhr nicorettekauend die belebte, steile U-Bahn-Rolltreppe zum Moskau-Platz hinauf. Gesichter auf dem Weg in den Untergrund zogen an ihm vorbei, die verschiedensten Gesichter, alle möglichen Spielarten der weißen Hautfarbe. Sein Zorn war verraucht, und mit ihm war auch das Adrenalinzittern abgeklungen. Er empfand nur noch stoische Feindschaft. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Wen kümmerte es wohl, wo sich Milo Weaver zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhielt? Die Chinesen nicht und die Deutschen auch nicht. Nur ein Mensch interessierte sich brennend dafür, was Milo gerade trieb. Senator Nathan Irwin. Er hatte Angst, dass sich Milo eines Tages aufraffen und Beweise für die Verstrickung des Senators in das sudanesische Debakel im letzten Jahr vorlegen könnte. Wie jeder vorsichtige Politiker sicherte sich Irwin nach allen Seiten ab.
Zumindest für den Rest des Tages musste sich der Senator auf Vermutungen verlassen.
Der Moskau-Platz strahlte die Intensität eines Verkehrsknotenpunkts aus. Teenager sammelten sich in kleinen Gruppen, andere hasteten zu Bussen und Straßenbahnen,
und kleine, dunkelhaarige Männer in Lederjacken verkauften Dinge von wackligen Tischen oder aus ihren Taschen. Das offene, dreieckige Gelände hatte etwas Schäbiges, ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch den Geruch von gebackenen Lebensmitteln und die unaufhörlich kreisenden Fahrzeuge. Das einzig Positive war die für die Jahreszeit ungewöhnlich laue Luft, die der Stadt einen vorzeitigen Frühlingstag bescherte.
Er stöberte in einem Zeitschriftenstand und schlenderte einmal um den Platz, ohne die Händler mit ihren Handys, östlichen Schmuckstücken, Schuhen und Büchern zu beachten. Um bei den blau gekleideten ungarischen Polizisten nicht aufzufallen, blieb er in Bewegung. Auf der einen Seite staute sich der Verkehr vor alten Häusern mit Plakaten für McDonald’s, Raiffeisenbank und Nespresso – auf Letzterem ein riesiger George Clooney, der sich einen köstlichen Schluck gönnte. Die andere Seite ragte jäh auf zum Schlossberg, und Touristen kletterten in gedrungene Elektrobusse, um hinauf in diese elysischen Gefilde zu gelangen.
Kurz vor zwei suchte er sich eine Stelle in der Nähe der Treppe zur Schlossstraße, steckte die Hände in die Taschen, und zeigte sein ausdrucksloses Gesicht nach möglichst vielen Richtungen. Doch niemand nahm von ihm Notiz. Alle waren irgendwohin unterwegs oder verkauften etwas.
Henry Gray näherte sich von hinten und trabte auf eine leichte, lässige Art die Stufen herab, die ganz bestimmt nicht ungarisch war. »Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung. « Ihm war nicht anzumerken, dass dieses Treffen für ihn potenziell lebensbedrohlich war. Milo war verblüfft. Er streckte die Hand aus, und Gray drückte sie einmal kurz, ehe er wieder losließ.
Er war Mitte dreißig, schmales Gesicht, dunkle Koteletten, das Haupthaar schon ein wenig dünn. Seine grünen Augen sahen aus wie künstlich nachkoloriert. Drei-oder Viertagebart. Ein typischer Auslandsamerikaner.
»Und Sie sind?« Milo wollte sicher sein.
»Henry Gray. Sie sind Milo Weaver. Sie sehen aus wie auf Ihren Fotos.«
»Meine Fotos?«
»Ja.« Er deutete über den Platz und setzte sich in Bewegung. »Nur Ihre Nase war nicht so versaut.«
24
Milo lief neben ihm über einen belebten Zebrastreifen zu einer kleinen Nebenstraße, die zum Einkaufszentrum Mammut
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