Last Exit
gekommen und hab gewusst, sobald James Einner davon erfährt, bin ich ein toter Mann. In ein paar Tagen oder Wochen, egal. Auf jeden Fall ein toter Mann. Ich konnte mich nicht an die Ungarn wenden, denn die hätten mich nur an die CIA weitergereicht. Und was hatte ich denn in der Hand? Nichts außer einer Story. Einner hat zwar den Brief gestohlen, aber das hier konnte er nicht mitnehmen.« Er tippte sich an den Schädel.
»Haben Sie sich denn nach mehreren Monaten Koma noch an alles erinnert?«
»An alles nicht. Nur an Bruchstücke. Zsuzsa ist mehr eingefallen als mir. Wir haben es zusammen rekonstruiert, bevor ich gegangen bin.«
»Bevor Sie verschwunden sind.«
»Ja.«
»Da hatten Sie ja immerhin schon was Wertvolles, das Sie den Chinesen anbieten konnten.«
»Genau.« Gray kaute am Ende seines Halms. »Ich bin aus dem Krankenhaus abgehauen und so schnell wie möglich in die Benczúr Utca gelaufen. Dort bin ich zum Empfang der Botschaft und habe um politisches Asyl gebeten. Ich wurde an jemanden verwiesen, der meine Geschichte aufgeschrieben hat.«
Milo folgte dem braunen Strohhalm von Grays gespitzten, feuchten Lippen hinab zu dem Minze-Gestrüpp in seinem Glas. Gray hatte sich an die Chinesen gewandt – darauf wäre er nie im Traum gekommen. »Haben Sie ihnen sofort die ganze Geschichte erzählt?«
»Teile. Die wichtigen Teile – Sudan, der Tiger, der Mullah. Für den Rest habe ich ihren Schutz verlangt. Hab
ihnen gesagt, dass ich im Marco Polo bin, das ist eine Jugendherberge in der Stadt. Nach zwei Tagen hab ich einen Anruf gekriegt. Sie wollten sich mit mir treffen, aber nicht in der Botschaft. Sie haben mir eine Adresse draußen in Budakalász genannt. Das liegt im Norden. Ich hab die Straßenbahn genommen und bin ein Stück zu Fuß gelaufen. Sie haben mich unterwegs aufgelesen und sind dann ganz woanders mit mir hingefahren.«
»Sie waren vorsichtig.«
»Natürlich. Ich war wichtig für sie.«
Milo fiel der Stolz in Grays Stimme auf. »Wo hat man Sie hingebracht?«
»Nach Budaörs im Süden, ein Stück ab von der M1. Da war so ein dicker Kerl dabei. Chinese – es waren alle Chinesen. Wir haben miteinander geredet.«
»Name?« Milos Mund war auf einmal trocken.
»Er hat gesagt, ich soll ihn Rick nennen. Das war ein Witz: Er wollte mir zeigen, dass Chinesen durchaus in der Lage sind, den Buchstaben R auszusprechen.« Gray grinste. Offenbar mochte er Rick. »Hat mir zu verstehen gegeben, dass es für uns beide nicht gut wäre, wenn ich seinen Namen erfahre. Mir war es egal – ich hatte nur Angst um mein Leben. Rick wollte mir helfen. Ich sollte ihm alles erzählen, was ich über die Sache wusste – alles, woran ich mich aus dem Brief erinnern konnte –, und er hat mir versprochen, dass ich ungestört recherchieren kann. Das war das Entscheidende. Erst nach der Veröffentlichung der Story bin ich nicht mehr in Gefahr.«
Milo antwortete nicht. Er stützte das Kinn auf die Fäuste und versuchte, sich einen Überblick über den Ablauf zu verschaffen. Gray hatte den Chinesen vom Sudan erzählt. Warum? Weil Milos Freund Tom Grainger einen Brief geschrieben hatte. Dieser Brief wäre in Grays Besitz
geblieben, hätte nicht James Einner den fehlgeschlagenen Mordversuch unternommen – und er wäre gar nicht erst abgeschickt worden, wenn Nathan Irwin nicht Graingers Liquidierung befohlen hätte.
Wer trug also die Verantwortung für das Ganze?
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Gray: »Ich werde mich bestimmt nicht entschuldigen. Schließlich habt ihr mich in diese Situation gebracht.«
»Ich verlange keine Entschuldigung«, erwiderte Milo. »Erzählen Sie weiter.«
»Na ja, so haben wir es dann gemacht. Ich hab alles aufgeschrieben, was ich noch von dem Brief wusste, und er hat mir geholfen, damit ich mich auch an Sachen erinnere, die ich vergessen hatte. Er hat spezielle Verhörmethoden – kein Waterboarding, nichts in dieser Art, einfach Gedankentricks, freie Assoziation. Wenn mir was eingefallen ist, hat er die verschiedenen Einzelheiten überprüft. Bei Schwierigkeiten hat er mich auf Dinge hingewiesen, die er wusste – geheime Dinge –, um zu sehen, ob ich dadurch auf was Neues komme.«
»Bis Sie den ganzen Brief rekonstruiert hatten.«
»Ja. Und er war wütend. Rick, meine ich. Er hatte nichts von der Operation im Sudan gewusst, und er war stinksauer. Die Leute behaupten immer, die Chinesen sind undurchschaubar, aber das ist Quatsch. Sie sind genauso jähzornig wie wir
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