Last Exit
demütigenden Krieg gekämpft hatten, am kommenden Sonntag eine Abstimmung über die Unabhängigkeit abhalten wollte. Abgelenkt von den Details des Raubs in Zürich und den Bemühungen um ein Visum für seine Mutter, hatte Radovan keine Zeitungen gelesen.
Das Ergebnis stand von vornherein fest, da die von Serben dominierte nördliche Region von Kosovo nur eine Minderheit darstellte, die nichts ausrichten konnte. Bei einem Volksentscheid hätten sie alle in Busse steigen können, um die Wahl zu verhindern, aber da das Parlament abstimmte, kam nur der Vorschlag aufs Tapet, Busse mit Kalaschnikows zu schicken.
Als der Sonntag näher rückte, wiesen seine optimistischeren Freunde daraufhin, dass das Ergebnis keine Rolle spielte. Kosovo hatte schon 1990 seine Unabhängigkeit erklärt und war lediglich von Albanien anerkannt worden. Und diesmal würde niemand diesen Schritt gehen, weil Artikel 10 der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrats, die den Kosovokrieg beendet hatte, Kosovo »substantielle Autonomie« innerhalb Serbiens garantierte, was
zugleich die Möglichkeit einer echten Unabhängigkeit ausschloss.
»Das ist ein historisches Dokument«, sagte jemand und verdeckte seine Zigarette mit der hohlen Hand. »International anerkannt. Sollen sie doch ihr Spielchen abziehen. Am Ende werden sie mit den Scherben dastehen.«
Die Optimisten machten sich keine Sorgen. Die anderen – die viel zahlreicher waren – umfassten Freunde und die meisten Politiker, die er im Fernsehen hörte. Die Welt, so mahnten sie, hatte sich schon vor langer Zeit gegen die Serben verschworen. Die Muslime in Kosovo wurden gehätschelt, weil sich die Welt von diesen jammernden Weibern und den angeblichen Massengräbern hatte täuschen lassen. Die Amerikaner, die es nach 9/11 eigentlich hätten besser wissen müssen, ließen sich wieder einmal von ihrer schwachsinnigen politischen Korrektheit den Kopf verdrehen.
Radovan zog den Optimismus vor. Mit einer Mutter, die langsam vom Krebs aufgefressen wurde, war es die einzige Haltung, die ihm noch ein gewisses Maß an Frieden erlaubte. Aber er war auch ein Berufsverbrecher, der wusste, dass sich die Welt nicht immer dem eigenen Optimismus beugte.
So hatte das Ergebnis der Abstimmung an diesem eisigen Sonntag vor einer Woche eigentlich kaum jemanden überrascht. Was folgte, dagegen schon.
Afghanistan war das erste Land, das die Republik Kosovo anerkannte. Dann Costa Rica und natürlich Albanien. Alles unwichtig, denn die Souveränität ist nur so stark wie die Nationen, die ihr zustimmen. Dann sagte Frankreich Ja. Der französische Präsident war ungarischer Abstammung, und die Ungarn hassten die Serben wie die Pest, vielleicht also nur eine Anomalie. Alle hielten den
Atem an. Die Türkei – auch Muslime, was konnte man da schon erwarten. Dann erklärte George W. Bush, dieser ahnungslose Cowboy, in Daressalam: »Die Kosovaren sind jetzt unabhängig.«
Allgemeines Ausatmen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte er fast alle Formalitäten für das österreichische Visum seiner Mutter erledigt und noch einen letzten Termin am kommenden Montag. Also zog er mit ihrem Segen und gemeinsam mit seinen Freunden auf die Straßen, um zu schreien und die Fäuste zu erheben. Sie wetterten gegen die UN und die USA und schmetterten orthodoxe Hymnen und Schlachtgesänge. Erschöpft und zufrieden mit sich selbst, betranken sie sich jeden Abend und erzählten sich Kosovogeschichten. Manche hatten dort gekämpft, und Radovan sog gierig die Erzählungen über brennende Dörfer, muslimische Terroristen und das Aufspüren vermisster Soldaten auf. Andere gaben sich als Amateurhistoriker – wie die meisten Serben in diesen Tagen – und konnten eine ganze Litanei von Daten herunterbeten, die die Region fest an die serbische Brust banden. Eine herausragende Stellung in allen Diskussionen nahm die Schlacht gegen die Ottomanen auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld, im Jahr 1389 ein, und alle Serben waren sich darin einig, dass sie seit dieser ruhmreichen Niederlage vor sechshundert Jahren um Kosovo kämpften.
Wenn eine Menschenmenge davon überzeugt ist, dass ihr wirklich Unrecht geschehen ist, kann nichts sie davon abhalten, Fenster einzuschlagen und Gehsteige zu zertrümmern. Und wenn dieses Unrecht bis ins Mittelalter zurückreicht und die Demütigung schon seit sechs Jahrhunderten andauert, dann wird ihr Zorn von religiösem Eifer getragen. Man zerbricht das Glas nicht nur für sich
selbst, sondern für alle, die vor einem waren,
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