Last Exit
Akte und schob sie in Richtung Erika. Die Mappe glitt über den langen Tisch auf sie zu, blieb aber auf halber Strecke liegen. Bernd musste aufstehen und sie den Rest des Weges ziehen. Weil sie wie zwei Seiten ein und derselben Person agierten, sprach Birgit an Franz’ Stelle. »Gehört das auch zu Ihren Ermittlungen?«
In der Akte war ein Standbild aus dem Berliner Video. Der Mann, nach der ausgezeichneten Bildrekonstruktion deutlich zu erkennen, hatte müde Augen mit schweren Lidern, wirkte aber ansonsten fit. Auf eine völlig anonyme Art attraktiv, während er mit Adriana redete. Erika blätterte um und überflog die wichtigsten Details, die ihr entgegensprangen. Der BMW des Kidnappers war als gestohlen gemeldet und später säuberlich ausgewischt auf dem Parkplatz von Tempelhof entdeckt worden. Der Opel, der den Entführer möglicherweise beschattet hatte, war von einem Amerikaner gemietet worden, über dessen Namen sie keine Aufzeichnungen hatten. Dann bemerkte sie, dass die Gesichtserkennungssoftware auf einen Namen gestoßen war: Milo Weaver, Amerikaner. Letzter bekannter Arbeitgeber: Central Intelligence Agency.
»Scheiße«, entfuhr es ihr trotz der eleganten Umgebung.
»Allerdings«, murmelte Birgit in ihren verfeinerten Kaffee.
Nachdem die Sache jetzt auf dem Tisch war, kehrte Wertmüller zur direkten Anrede zurück. »Ich frage mich allmählich, ob Sie die nötige Objektivität für diese Arbeit mitbringen, Erika. Sie scheinen wirklich besessen von den Amerikanern.«
Vor nicht allzu langer Zeit hatte man ihre Erkenntnisse über die Amerikaner unbesehen geglaubt. Damit war es
vorbei seit den Mohnfeldern in Afghanistan und dem veredelten Heroin, das bis nach Hamburg gelangte.
Mehr zufällig als durch detektivisches Geschick war sie Ende 2005 auf die Spur gestoßen, während sie Terrorverdächtige unter die Lupe nahm, die sich als schlichte Drogenbarone entpuppten. Aber die mit Folien umwickelten Ziegel, die sie in die EU schleusten, stammten von Feldern, auf denen von der US Army bewachte Taliban-Gefangene arbeiteten. Die Ziegel wurden an Händler verkauft und in ganz Europa verteilt. Alles unter der Leitung der CIA, um Dinge zu finanzieren, für die die Verantwortlichen im Kongress nicht zahlen wollten oder von denen sie gar nichts wussten.
Mit diesen Informationen war sie sofort zu Wertmüller gegangen, der zunächst genauso darauf reagierte wie sie: fassungslos und dann empört. Es hatte ihr imponiert, dass so ein Mann noch Empörung empfinden konnte. Er lobte sie für ihre Arbeit und versprach, sie zentral einzubinden, wenn sie diesen Schwachköpfen in Langley eine Lektion erteilten.
Eine Woche verging, dann noch eine, und schließlich folgte ein weiteres Gespräch mit ihm – plötzlich war sein Terminkalender randvoll. Die Empörung war verschwunden, und an ihre Stelle war der stoische Pragmatismus getreten, den sie von Anfang an erwartet hatte. Ja, sie waren alle aufgebracht, erklärte er, aber man war zu dem Schluss gelangt, dass man sich nach dem übergeordneten Wohl zu richten hatte. In diesem Fall bestand das übergeordnete Wohl aus der Unmenge an hervorragenden nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, die die CIA in ihrem weltweiten Kampf gegen den Terror an den BND weitergab. »Da muss man einfach einen kühlen Kopf bewahren, Erika.«
Vielleicht hatte Erika tatsächlich überstürzt gehandelt – zwei Jahre später war sie sich immer noch nicht sicher. Jedenfalls hatte sie ihrer Meinung nach durchaus einen kühlen Kopf bewahrt, als sie eine kleine Mappe mit Beweisen zusammenstellte und sie in einem Londoner Pub einem Vertreter von Senator Harlan Pleasance überließ, der einen Untersuchungsausschuss zur Finanzierung der CIA leitete. Sie wusste, dass Pleasance ins nationale Rampenlicht drängte und das Maximum aus diesen Informationen herausquetschen würde. Und genau das tat er auch. Die Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und angesichts der internationalen Proteste blieb Berlin gar nichts anderes übrig, als die CIA zu verurteilen und viele gemeinsame Operationen zu beenden. Aus diesem Grund hatte Raum S nie seinen ursprünglichen Zweck erfüllen können.
Wertmüller kam ihr natürlich auf die Schliche. Er fand zwar keine handfesten Beweise dafür, dass sie geheime Informationen weitergegeben hatte, aber sie war die einzig mögliche Quelle. Beweise sind nur wenig zwingender als Gerüchte, und Wertmüller sorgte dafür, dass es alle aus der Nachrichtendienstbranche
Weitere Kostenlose Bücher